Mordfälle und Cold CasesWie sich die Arbeit an Tatorten verändert hat

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  • Ermittlungen am Tatort haben sich kaum geändert, die Technik hingegen schon.
  • Im Fall Claudia Ruf sieht ein „Hobby-Ermittler“ die Polizei auf der falschen Spur.
  • Zwischen 1996 und 1998 wurden zahlreiche weitere Mädchen ermordet.

Euskirchen/Bonn – Das Flatterband ist am Scheibenwischer eines Streifenwagens befestigt. Es weht im lauen Mai-Wind. Etwa 50 Meter weiter wird ein weißes Zelt aufgebaut, um die Leiche von Claudia Ruf vor der Witterung zu schützen. Und gleichzeitig es den Journalisten zu erschweren, Bilder von der toten Elfjährigen zu machen. Die Kripobeamten machen das, was sie immer tun: sie sichern Beweismaterial. Doch wie hat sich die Tatortarbeit in den vergangenen 26 Jahren verändert? Würde man im Fall Claudia Ruf heute, fast drei Jahrzehnte später, etwas anders machen?

„Die eigentliche Tatortarbeit hat sich nur geringfügig, in manchen Bereichen auch gar nicht verändert“, sagt Robert Scholten, Pressesprecher der Bonner Polizei. Natürlich sei sie moderner geworden, aber in ihren Grundfesten nicht anders. Noch immer werden zahlreiche Fotos gemacht. Die werden laut Scholten heute auch schon mal mit dem Smartphone aufgenommen. „Da macht man eher schon mal eins mehr als eins zu wenig“, so Scholten. Er habe früher noch Polaroids gemacht.

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Ein Spurensicherungskoffer.

Viele Hoffnungen – gerade um ältere Fälle aufklären zu können – ruhen heute auf der DNA-Analyse. Die hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Das wurde im Fall Claudia Ruf erstmals 2009 deutlich, als durch moderne Technik DNA-Spuren isoliert werden konnte, die nicht zur Elfjährigen gehörten. „Wir nehmen heute penibler Spuren“, so Scholten. „Abreiben“ nennen die Kriminologen das Sichern von DNA-Spuren – immer in Rücksprache mit Wissenschaftlern und Rechtsmedizinern. „Einfach, damit wir mehr Material haben“, sagt Scholten, der hinterherschiebt: „Schon damals sind Spuren abgeklebt worden, um sie zu sichern. Die Sicherung der Kleidung war damals ebenfalls extrem wichtig.“ Kleidung, die bei Claudia Ruf bisher nicht gefunden werden konnte. Und dennoch: Scholten steht stellvertretend für die Haltung, die sich durch das KK11 zieht.

„Wir werden da auch Erfolg haben“

KK11 steht für Kriminalkommissariat 11. Das kümmert sich in Bonn um Mordfälle. Natürlich auch um Cold Cases – also Mordfälle, in denen es aktuell keine heiße Spur mehr gibt, die mitunter Jahrzehnte zurückliegen. „Wir können alte Asservate aufarbeiten und werden da auch Erfolg haben“, so Scholten.

Ob die Beamten im Fall Claudia Ruf Erfolg haben werden, wird sich zeigen. Was sich laut Scholten in den vergangenen 26 Jahren aber auch gezeigt hat: „Wenn wir mit dem Stand im Fall Claudia Ruf, den wir heute haben, erstmals an den Mord herangehen würden, würden wir nichts anders machen“, sagt der Pressesprecher: „Die Tatortaufnahmen, der Überblick, die eigene Wahrnehmung. Das hat sich nicht oder nur geringfügig geändert.“

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Polizisten am Fundort der Leiche von Claudia Ruf.

Nicht selten seien es pensionierte Krimimalbeamte, die jetzt Cold Cases aufarbeiteten. „Wenn man mit einem gewissen Abstand bestimmte Sachen durchliest, da fällt einem schon auf, dass man dieses und jenes noch mal angehen könnte“, so Scholten. Die einschlägigen Erfahrungen der Kriminologen seien wichtig, da diese wüssten, wie man mit solchen Fällen umgehe.

Was macht die erfolgreiche Arbeit des KK11 aus? „Die unterschiedlichen Charaktere“, antwortet Scholten. Es gibt Beamtinnen und Beamte, die stark in der Vernehmung sind. Andere haben ihre Stärken in der Analyse von Tatorten. „Wir hatten einen Kollegen, der sich mit dem Stuhl in den Tatort hineingesetzt hat, um die Szenerie aufzusaugen“, berichtet Scholten. Das sei keine Marotte gewesen. Der Kollege habe sich die Situation intensiv vergegenwärtigen wollen.

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Anfang der 1990er Jahre war die Welt noch eine andere. Auch technisch. „Da haben wir noch mit Polaroid gearbeitet“, teilt Scholten mit: „Teilweise sind wir nachher mit ein oder zwei Bildern ausgekommen, weil wir einfach die Erfahrung hatten.“ Heute haben alle Beamtinnen und Beamten ein Smartphone als Diensthandy. „Und wie viele Fotos wir machen, ist letztlich egal. Die Gelegenheit ist noch größer, die Ecke vom Tisch aus wirklich allen Winkeln zu fotografieren. Das spielt heute eine große Rolle“, berichtet der Polizeisprecher.

Auch die Möglichkeiten einen Tatort zu vermessen, sind heute andere als vor 26 Jahren. Heute werde viel dreidimensional aufgenommen und festgehalten. Das sei für die eigenen Gedankenspiele „extrem wichtig“, so Scholten. Dafür gibt es beim LKA sogar mittlerweile eine eigene Gruppe.

Lehrstunde vor Gericht

Scholten gibt im Gespräch mit dieser Zeitung zu, dass er am Anfang mitunter nicht verstanden habe, warum der Kollege so lange auf eine spezielle Ecke im Raum starre. „Vor Gericht ist das aber von großer Bedeutung. Da wird man so allerhand gefragt“, so Scholten. Er sei etwa von einem Richter mal gefragt worden, welchen Fixpunkt er bei einem Verbrechen im Wald genommen habe. Scholtens Antwort: „Ein Baum.“ Je nachdem wie lange das Verbrechen zurückliegt, eignen sich Bäume aber nicht unbedingt als Fixpunkt. Der Grund: sie könnten längst abgesägt sein. „Nach dieser Gerichtsverhandlung hatte ich ein ganz anderes Verhältnis zur Dokumentation von Tatorten“, sagt Scholten schmunzelnd.

Der Aktenaufbau habe ich im Laufe der Jahre ein wenig verändert. Dennoch könne man sich auch in den älteren Akten problemlos zurechtfinden. Heute sind laut Scholten viele Akten digitalisiert. Und in PDF-Dateien digital zu blättern, sei schon etwas anderes.

Beim Blick in die Aktenlage wird auch deutlich: Mitte bis Ende der 1990er Jahre werden viele Kinder vermisst, entführt, ermordet. Glaubt man dem „Hobbyermittler“, wie Polizeisprecher Scholten Klaus F. bezeichnet, hat die Polizei im Fall Claudia Ruf eine Möglichkeit nie unter die Lupe genommen. F., der sich auf seiner Internetseite selbst als Universalgenie bezeichnet, ist sich sicher, dass der Mörder von Claudia Ruf zwar eine Verbindung nach Hemmerden haben muss, dort aber schon länger nicht mehr lebte. Vor allem müsse er aber eine konkrete Verbindung in den Raum Euskirchen haben.

Weitere Fälle

Deborah Sassen

Deborah „Debbie“ Sassen ist acht Jahre alt, als sie plötzlich verschwindet. Das Kind aus Düsseldorf kommt am 13. Februar 1996 gerade vom Schwimmunterricht, muss noch mal kurz zur Schule zurück, weil es etwas vergessen hat. Um 12 Uhr wird Debbie zuletzt gesehen. Als sie nicht zum Mittagessen zu Hause ist, melden ihre Eltern sie als vermisst. Die Polizei verfolgt Dutzende Spuren – vergeblich. Debbie bleibt verschwunden.

Annika Seidel

Im September 1996, verschwindet die elfjährige Annika Seidel in Kelkheim (Hessen). Am Nachmittag des 10. September war das Mädchen mit ihrer Mutter unterwegs, gegen 18 Uhr trennen sich die beiden. Die Elfjährige will noch Flohmittel für den Hund kaufen. Als das Mädchen um 21.15 Uhr immer noch nicht zurück ist, sucht die Mutter nach ihrer Tochter und ruft die Polizei. Doch auch die kann den Verbleib der Schülerin nicht erklären.

Cloppenburg

Juni 1996: Eine 13 Jahre alte Schülerin verschwindet während einer Pony-Kutschfahrt nahe ihres Heimatortes Jeddeloh bei Cloppenburg (Niedersachsen). Der Mord wird erst zwei Jahre später im Zusammenhang mit einem anderen Verbrechen aufgeklärt.

Epfach

September 1996: Ein wegen sexuellen Missbrauchs vorbestrafter und vorzeitig entlassener Kfz-Elektriker entführt eine Siebenjährige aus dem oberbayerischen Epfach. Er missbraucht das Kind und wirft es bewusstlos in den Lech, wo es ertrinkt.

Varel-Langendamm

Januar 1997: Eine Zehnjährige wird von einem vorbestraften Buchhändler in Varel-Langendamm (Niedersachsen) mehrfach missbraucht und erstickt. Ihre Leiche wird in einem Wald bei Amsterdam entdeckt.

Strücklingen

März 1998: Eine Elfjährige aus Strücklingen in Niedersachsen wird verschleppt, missbraucht und erdrosselt. Ein Massen-Gentest führt zur Festnahme des 30-jährigen Mechanikers, der ein weiteres Kind ermordet hatte.

Ranstadt-Bobenhausen

September 1999: Eine Achtjährige verschwindet in ihrem Heimatort Ranstadt-Bobenhausen. Leichenteile werden am 1. April 2000 gefunden. Im Oktober 2017, mehr als 18 Jahre nach der Tat, konnte ein Tatverdächtiger festgenommen werden. Die Hauptverhandlung fand seit dem 20. April 2018 vor dem Landgericht Gießen statt. Am 19. November 2018 wird der Angeklagte zu lebenslanger Haft verurteilt.

Und F. hat da eine Theorie: 1995 fand in Mülheim-Wichterich ein Bezirksschießen statt. Für ihn steht fest, dass es eine Verbindung zwischen Hemmerden und den Raum Euskirchen durch das Hobby „Schützen“ besteht und der mutmaßliche Täter daher auch den asphaltierten Wirtschaftsweg kennt, an dem die Leiche von Claudia Ruf entdeckt worden war. Der „Hobby-Krimiloge“ wirft auf seiner Website die Frage auf, warum die Polizei nie einen Massengentest im Raum Euskirchen anberaumt habe. „Wir haben alle infrage kommenden Männer aus dem Raum Euskirchen bei den Massengentest abgearbeitet“, sagt Pressesprecher Scholten. In der Polizeiarbeit spiele das „Universalgenie“ keine Rolle, betont der Beamte.

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