TelemedizinPflegeheime im Kreis Euskirchen übernehmen Vorreiterrolle

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Eine Telenotärztin sitzt in der Rettungsleitstelle der Feuerwehr vor einem Bildschirm und ist mit Rettungssanitätern verbunden, die eine Schlaganfallpatientin behandeln.

Egal, ob beim Tele-Notarzt (Foto), der die Rettungssanitäter bei ihrem Einsatz aus der Ferne bei medizinischen Fragen unterstützt, oder beim neuen Tele-Doc für die zusätzliche Visite im Pflegeheim: Die Telemedizin verspricht eine bessere Versorgung.

Elf Alten- und Pflegeheime im Kreis Euskirchen beteiligen sich nach erfolgreicher Erprobung an der Televisite.

Für Arno Brauckmann, Pflegedienstleiter im Evangelischen Alten- und Pflegeheim (EvA) in Gemünd, war die Testphase des AIDA-Projekts ein voller Erfolg: „Die Zahl der Hausärzte geht zurück, und deshalb werden auch Hausbesuche der Mediziner seltener. Mit Hilfe der Telemedizin können hier Lücken geschlossen werden, speziell, wenn es um akute Beschwerden der Bewohner geht“, ist Brauckmann überzeugt.

AIDA – damit ist in diesem Fall keine Verdi-Oper und auch kein Kreuzfahrtschiff gemeint. Die Abkürzung steht für „Arbeitsentwicklung in der Altenpflege durch Einführung eines telemedizinischen Notdienst-Konzeptes“. Nach der erfolgreichen Pilotphase wollen die Projektpartner, die Krankenkasse AOK Rheinland/Hamburg und der Kreis Euskirchen, das Projekt für sogenannte Televisiten auf künftig elf Pflegeeinrichtungen im Kreisgebiet ausweiten. „Damit übernimmt der Kreis eine Vorreiterrolle: Nirgendwo in Deutschland haben wir so viele Geräte im Einsatz“, sagt Prof. Dr. Dr. Michael Czaplik, der an der Entwicklung der eingesetzten Technik beteiligt ist.

Wichtig sei, das betonte auch Landrat Markus Ramers bei einer Fachtagung zum Thema Telemedizin im Euskirchener Kreishaus, dass die Technik nicht den persönlichen Besuch des Hausarztes oder der Hausärztin im Pflegeheim ersetzen soll: „Aber das System ist eine sinnvolle Ergänzung, das hat der Probebetrieb gezeigt.“ Es gehe vielmehr um die Notfälle, bei denen ein Arzt nicht sofort kommen könne, wenn er gerade das Wartezimmer voll habe. Seit Sommer 2020 ist der „Tele-Doc“ im EvA bereits im Einsatz. „Wir haben die Erprobung wegen Corona vorgezogen“, so Brauckmann.

Ziel: Weniger unnötige Krankenhaus-Einweisungen

Ein Ziel sei gewesen, durch den Einsatz der Technik unnötige Krankenhausaufenthalte zu vermeiden. „Für die Bewohner kann eine Verlegung ins Krankenhaus sehr stressig sein“, berichtet der Pflegedienstleiter aus seinem Arbeitsalltag. Im Kreis Euskirchen ist die Zahl der unnötigen Krankenhauseinweisungen überdurchschnittlich hoch: „Laut einer aktuellen Studie liegt sie im Bereich der Pflegeheime bei 42 Prozent. Während der Pilotphase konnte sie in den teilnehmenden Pflegeheimen auf 30 Prozent gesenkt werden“, berichtet Michael Czaplik, CEO der Firma „Docs in Clouds“. Das Aachener Unternehmen ist der Entwickler des für die virtuellen Hausbesuche verwendeten Systems „Tele-Doc“.

Eine Konsultation mit dem Hausarzt oder der Fachärztin zur niedrigschwelligen Abklärung einer medizinischen Situation oder auch für eine Routinevisite könnten hier schnell Klarheit und Handlungssicherheit für die Pflegekräfte schaffen. Von Vorteil sei auch, dass der eigene Hausarzt den Patienten besser kenne als ein Notfallmediziner, der sonst standardmäßig hinzugezogen werden müsse. „Wichtige Gesundheitsdaten werden in Echtzeit übertragen, die dem Arzt bei der Beurteilung der Situation helfen, ohne dass er erst zu einem Hausbesuch ins Pflegeheim kommen muss“, schildert der Pflegedienstleiter des EvA die Vorteile des Systems.

Ihm sei aber auch wichtig, dass das System von den Patienten akzeptiert werde: „Das hat sehr gut funktioniert. Und während des Betriebs hat es weitere Verbesserungen gegeben, etwa einen zweiten Monitor an der Technik-Einheit. Die Kommunikation läuft besser, wenn sich Arzt und Patient gegenseitig sehen können“, berichtet Brauckmann aus der praktischen Anwendung des Systems. Bei der Televisite sind Patientinnen und Patienten gemeinsam mit einer Fachpflegekraft des Alten- oder Pflegeheims im digitalen Austausch mit dem Arzt oder der Ärztin.

Tele-Doc als Weiterentwicklung des Tele-Notarztes

„Entstanden ist das System aus dem Tele-Notarzt, der auch im Kreis Euskirchen bereits im Einsatz ist“, erklärt Czaplik: „Neben der Verabreichung der angemessenen Medikation geht es in den Heimen vor allem um die Entscheidung, ob eine Krankenhauseinweisung oder ein Rettungsdiensteinsatz erforderlich sind oder nicht.“ Dazu können durch die technische Vernetzung auch objektive Messdaten zu Hilfe genommen werden, beispielsweise Blutdruck, Blutzucker oder die Sauerstoffsättigung. Selbst das Abhorchen des Patienten sei aus der Ferne über das Internet für den Arzt möglich. „Das geht mithilfe eines digitalen Stethoskops“, erläutert Brauckmann: „Die Töne werden per Funk vom Stethoskop an den Rechner übertragen und verstärkt, damit der Arzt oder die Ärztin sie gut beurteilen können.“

Auch Matthias Mohrmann, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg, unterstreicht die Möglichkeiten der Digitalisierung für eine qualitativ hochwertige Versorgung von pflegebedürftigen Menschen: „Virtuelle Arztbesuche, kombiniert mit der persönlichen Begleitung durch eine vertraute Pflegekraft, können die Lebensqualität der Menschen erhöhen. Stress und Ängste, die durch den Wechsel der bekannten Umgebung ausgelöst werden, können reduziert und unnötige Krankenhausaufenthalte vermieden werden“, so Mohrmann.

System bietet auch den Ärzten Vorteile

Die Nutzung der Televisiten soll künftig allen Versicherten offenstehen, unabhängig von ihrer Kassenzugehörigkeit. Um die Pflegeheime in der Umsetzung zu begleiten, strebt die AOK Rheinland/Hamburg eine selektivvertragliche Unterstützung für die Heime an. „Als größte Krankenkasse im Kreis Euskirchen gehen wir bei dem Thema voran“, betont der Euskirchener AOK-Chef Helmut Schneider: „Andere Versicherer können sich dem Selektivvertrag dann anschließen.“

Vorteile biete das System auch den niedergelassenen Ärzten, sagt Dr. Benedikt Zumbé, Arzt für Allgemeinmedizin in Tondorf: „Durch Telemedizin können Ärztinnen und Ärzte sich ohne lange Fahrzeiten ein Bild vom Zustand ihrer Patientinnen und Patienten in Pflegeeinrichtungen machen und gegebenenfalls notwendige Maßnahmen zügig einleiten. Vom Einsatz der Televisiten profitieren also alle Beteiligten.“


Ein Drittel der Pflegeheime nimmt am Projekt teil

  • Im Kreis Euskirchen leben rheinlandweit die meisten Pflegebedürftigen. Und auch die Zahl der Pflegeheime ist sehr hoch. „Wir freuen uns, dass dieses wegweisende Projekt im Kreis Euskirchen umgesetzt wird. Damit wird die pflegerische Situation im Kreis verbessert. Zudem wird der Kreis als Modellregion zur langfristigen Verbesserung der Versorgung Pflegebedürftiger im ländlichen Raum insgesamt beitragen können“, sagt Landrat Markus Ramers.
  • Elf Alten- und Pflegeheime sollen ab April mit den Teledoc-Stationen ausgestattet werden – mehr als ein Drittel aller Heime im Kreisgebiet. Die wissenschaftliche Begleitung des Projekts erfolgt in Kooperation mit der Uniklinik der RWTH Aachen. Die Kosten von rund 12000 Euro pro Gerät in der Basis-Ausstattung werden über das Programm Telemedizin NRW des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen sowie durch Fördermittel des Projektes „Care & Mobility Innovation“ des Kreises Euskirchen gefördert. Die zur Verfügung stehenden 100.000 Euro wurden vom Kreis noch einmal um 20.000 Euro aufgestockt, erklärte Kreis-Technologiescout Michael Franssen.
  • Die AOK Rheinland/Hamburg wird, nach der technischen Ausstattung der Heime und nach den ersten Schulungen, die teilnehmenden Pflegeeinrichtungen in der Umsetzung weiter unterstützen. „Wir gehen davon aus, dass die Teilnahme an dem Projekt sowohl für die Heime als auch für die Ärzte zu einem Wettbewerbsvorteil werden kann – auch bei der Personalgewinnung“, glaubt AOK-Chef Helmut Schneider.
  • Von einer Aufwertung der Arbeit des Pflegefachpersonals in den Heimen und den Mitarbeitenden in den Praxen spricht auch Hausarzt Dr. Benedikt Zumbé: „Der Einsatz moderner Technik steigert die Motivation, vor allem bei jungen Leuten. Die Arbeit muss aber auch entsprechend honoriert werden.“ (thw)
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