Wunder von BernBesuch beim Mann, der sich 1954 aufs Mannschaftsfoto mogelte
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Ein Foto aus der Geschichte des deutschen Fußballs: Die Weltmeister-Elf von 1954 posierte nach dem Finalsieg im Stadion in Bern für die Weltpresse. Mit auf dem Foto, hinter Horst Eckel (stehend 5.v.r.) und Werner Liebrich (4.v.r.): der damals 29-jährige Franz Wilhelm Chrosch aus Kommern-Süd.
Copyright: SZ Photo/Hartung
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Mechernich-Kommern-Süd – 64 Jahre ist es her, dass Deutschland beim Wunder von Bern mit dem legendären 3:2 gegen Ungarn erstmalig Fußballweltmeister wurde. Die Gruppenfotos, auf denen die frischgebackenen Titelträger mit ihrem Kapitän Fritz Walter 1954 im Berner Wankdorfstadion posierten, sind deutsche Fußballgeschichte.
Ganz nah ans Team gemogelt
Auf ihnen ist auch ein Mann zu sehen, der keineswegs zur Mannschaft gehörte, aber den Sieg im Stadion miterlebte und -feierte. Der 92-jährige Franz Wilhelm Chrosch aus Kommern-Süd saß im Stadion vorne an der Bande und nutzte den Trubel nach dem Spiel, um sich aufs Spielfeld ganz nahe ans Team zu mogeln. So landete er auf den Fotos der Helden.
Er ist jubelnd hinter Horst Eckel und Werner Liebrich zu sehen. Auf einem anderen steht er direkt hinter Trainer Sepp Herberger.
Es ist beigebraun, daumendick und enthält ein waschechtes Wunder. Das unscheinbare Büchlein, das Franz Wilhelm Chrosch in den feingliedrigen, mit Altersflecken übersäten Händen hält, könnte durchaus als gewöhnliche Kladde durchgehen.
„Deutschland ist Weltmeister. Unfassbar!“, hat der überwältigte Student nach dem Finale ins Tagebuch geschrieben.
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Wenn – ja, wenn da nicht die historischen Worte wären, die Chrosch am 4. Juli 1954, kurz nach dem Abpfiff des WM-Finales, noch umringt von jubelnden Menschenmassen im Berner Wankdorf-Stadion, hineingeschrieben hat: „Deutschland ist Weltmeister. Unfassbar!“
Mehr als sechs Jahrzehnte sind seitdem vergangen und mindestens so erstaunlich wie das Final-Ergebnis erscheint angesichts der äußeren Umstände die Tatsache, dass die zierlichen Bleistift-Buchstaben in Chroschs Büchlein kein bisschen krakelig wirken. Zittern einem denn nicht vor Aufregung die Hände – nach so einem Spiel? „Doch, doch“, lacht Franz Wilhelm Chrosch, dem die norddeutsche Sprach-Melodie noch gut anzuhören ist. „Aber das hab’ ich noch ganz gut hinbekommen, nicht?“
Der 92-Jährige zwinkert und in seinen gebirgsbach-blauen Augen blitzt ein spitzbübisches Lächeln auf. Auch nach Jahrzehnten erinnert es fern an das breite Grinsen eines 29-jährigen Junggesellen, der sein Glück kaum fassen kann, rein zufällig Zeuge eines historischen Sportereignisses geworden zu sein: Das Wunder von Bern.
Wichtigstes Beweis- und Erinnerungsstück ist der rot-weiße Wimpel, den Franz Wilhelm Chrosch aus Bern mitgebracht hat. Ohne diesen hätten ihm seine Freunde das Abenteuer vermutlich nicht geglaubt.
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Franz Wilhelm Chrosch hat geradezu unverschämtes Glück gehabt. Als Sepp Herberger am frühen Abend des 4. Juli das Wankdorf-Stadion betritt und eine Hand prüfend auf den Rasen legt, sitzt der Oldesloer Student nur wenige Meter entfernt auf einer Bank im Regen.
Mit klopfendem Herzen fragt er sich, was der Bundestrainer wohl im Schilde führt. Den Fernseh-Kommentar kann Chrosch nicht hören, ahnt aber ganz richtig, dass es um Bodenbeschaffenheit und die Wahl der Stollen geht. Mit dem ergatterten Sitzplatz direkt hinter der Bande, ungefähr mittig zwischen beiden Toren, ist der fußballbegeisterte junge Mann selig.
Acht Spiele angesehen
„Ein sensationeller Platz war das!“, schwärmt der pensionierte Bauingenieur, der heute, 64 Jahre nach dem Großereignis, im Seniorenheim Falkenhorst lebt. „Von dort unten konnte ich alles ganz genau verfolgen.“
Dies sei jedoch, wie so vieles auf seiner sommerlichen Schweiz-Reise, nichts anders als ein glücklicher Zufall gewesen. „Ich konnte ja nicht ahnen, wer ins Finale kommt, als ich die Karten einige Wochen zuvor beim Fußballbund bestellt habe.“
Mit Deutschland habe er jedenfalls nicht gerechnet, das gibt der 92-Jährige unumwunden zu: „Ungarn, England, Uruguay – die waren doch alle viel stärker.“
Insgesamt acht WM-Spiele hat sich der fußballbegeisterte Student, der als Linker Läufer“ (Linkes Mittelfeld) beim VfL Oldesloe und danach in einer Braunschweiger Studentenmannschaft kickte, im Sommer ’54 angeschaut. Darunter auch zwei Vorrundenspiele mit deutscher Beteiligung und das Halbfinale zwischen Deutschland und Österreich, das mit einem sagenhaften 6:1 endete.
In Chroschs daumendickem Tagebuch findet sich zu dem Überraschungserfolg der Deutschen Mannschaft nur der etwas dürftige Eintrag: „Ein schönes Spiel.“ Was daran liegen könnte, wie Chroschs Tochter Renate Richter augenzwinkernd einräumt, dass der haushohe Sieg laut Vaters Aufzeichnungen etwas ausführlicher in einem Baseler Biergarten gefeiert wurde und er das Ergebnis erst am nächsten Tag eingetragen hatte.
Endspiel-Ticket für fünf D-Mark
Trotz der vielen Stadionbesuche sei der „kleine Sommerurlaub“ nicht besonders kostspielig ausgefallen, erinnert sich Chrosch. Etwa fünf D-Mark habe er pro Ticket investiert. Weil sein Vater bei der Deutschen Bundesbahn beschäftigt war, waren Hin- und Rückreise umsonst.
Der zwölfte Spieler von Manchester United
Nicht nur Franz Wilhelm Chrosch schaffte es auf ein berühmtes Mannschaftsfoto. Bei Manchester United waren auf dem obligatorischen Bild vor dem Anpfiff plötzlich zwölf Spieler zu sehen.
Karl Power ist der berühmteste United-Spieler, der nie für die Red Devils aufgelaufen ist. Am 18. April 2001 tritt „Manu“ im Champions-League-Viertelfinale bei Bayern München an. Plötzlich steht Karl Power neben Gary Nevilles, Fabian Bartes, Roy Keane und Paul Scholes – und ist Teil des Mannschaftsbilds.
Als Fotograf verkleidet, schafft es Power ins Stadion. Seinen Presseausweis hat er über das Männermagazin „Front“ bekommen. Unterm Fotografenüberzug hält der Ex-Boxer das Manu-Trikot bereit. Als er dann in Richtung Spielerbank läuft, ist er nicht mehr aufzuhalten. Ungehindert betritt der Mann, der Manu-Legende Eric Cantona ähnlich sieht, das Feld und lässt sich ablichten. (tom)
Dadurch blieb genug Erspartes übrig, um sich im Land der Eidgenossen eine schöne Zeit zu machen. Zum Beispiel mit Radtouren: Einige hundert Kilometer ist Franz Wilhelm Chrosch mit seinem betagten Herrenrad (ohne Gangschaltung) kreuz und quer durch die Schweizer Bergwelt gestrampelt.
Wie den dicht beschriebenen Tagebuchseiten zu entnehmen ist, kam er nachts meist bei einem Bauern unter. „Schlafen im Heulager“, liest Renate Richter schmunzelnd vor. „Oder hier: Übernachtung im Stroh. Na, da hattest du ja einigen Spaß, Papa!“
Händeschütteln am Hotel Belvédère
Im Gegenzug hat der sportliche junge Mann, der während des Zweiten Weltkriegs bei einer Fahrradkompanie in Bergen/Norwegen stationiert war, bei der Kirschernte geholfen oder auf den Höfen fleißig mitangepackt.
Einmal hat er sich sogar zum noblen Hotel Belvédère nach Spiez am Thuner See durchgeschlagen, wo Fritz Walter und Kameraden während des Turniers Quartier bezogen hatten.
Franz Wilhelm Chrosch hat alles genau notiert: Auf einem Notizzettel stehen Daten, Spielbegegnungen und Ergebnisse.
Copyright: Kerstin Rottland
„Da habe ich fleißig Hände geschüttelt, als die aus dem Hotel rauskamen“, erinnert er sich mit glänzenden Augen. Ach! Wem denn alles? „Posipal, Liebrich, Kohlmeyer, Eckel, Mai, Morlock…“ Der 92-Jährige rattert sämtliche Spielernamen runter, als wären seit damals nicht schlappe 64 Jahre vergangen.
Bei den Olympischen Spielen 1972 in München sei er übrigens auch dabei gewesen, fällt ihm plötzlich ein. „Aber das ist wieder eine andere Geschichte.“
Zur Erinnerung an Bern hat Chrosch sich damals einen hübschen, rot-weißen Wimpel gekauft. Wann genau, das weiß er heute nicht mehr. Doch wie gut, dass er ihn hatte: „Sonst hätte mir nämlich zu Hause keiner geglaubt, dass ich in Bern war.“ Zu diesem Zeitpunkt konnte er ja noch nicht ahnen, dass sein Gesicht auf den historischen Spielerfotos der Weltmeister-Elf auftauchen würde.
„Die Kommilitonen haben sich wohl alle vorm Schaufenster des Fernseh-Geschäfts geknubbelt, um was zu sehen.“ Belustigt schüttelt er den Kopf: „Da war mein Platz schon ein bisschen besser. Nicht?“