„Kraft geht aus“Wie Kölner Familien den Ausnahmezustand meistern

Lesezeit 6 Minuten
Neuer Inhalt (3)

Keiner erlebt mehr etwas in eigener Regie: Mia (3), Paul (5), Wencke und Steffen R. vermissen Freunde und Freiräume.

  • Die Corona-Krise wird immer mehr zur Belastungsprobe.
  • Dabei sind besonders Familien mit Kindern unter Druck - Homeoffice, Homeschooling und der normale Wahnsinn obendrauf.
  • Gabi Bossler über sieben Wochen Ausnahmezustand in Köln

Köln – „Besser als befürchtet“ sei es ihnen in den ersten Wochen nach dem Corona-Shutdown ergangen, sagen Wencke und Steffen R. Die beiden 38-Jährigen arbeiten im Homeoffice; ihre Kinder Mia (3) und Paul (5) sind wie ihre Eltern tagsüber zu Hause. Doch sieben Wochen nach Schließung der Kita sei „bei allem Optimismus“ die Grenze der Belastbarkeit erreicht. „Es gibt keine Pausen mehr. Man arbeitet. Dann ist man für die Kinder da. Dann arbeitet man wieder. Kinder können sich in dem Alter nicht stundenlang alleine beschäftigen“, sagt Wencke R. „Jeder Tag muss akribisch geplant werden. Und keiner von uns erlebt mehr etwas in eigener Regie.“

Wenn die Welt Kopf steht

Die einschneidende Veränderung ihres Alltags ist für jüngere Kinder schwer zu verstehen. Ihre Welt steht Kopf. Sie laufen auf andere Kinder zu und werden hastig weggezogen. Die Eltern arbeiten zu Hause, haben aber keine Zeit. Mit Opa und Oma kann man sprechen, aber sie dürfen nicht kommen. Wie lange noch? Das können ihnen selbst die Eltern nicht sagen. Ältere halten die Abstandsregeln oft mit großem Ernst ein, spielen mit den Geschwistern, damit die Eltern arbeiten können. „Nicht immer“ mache das Spaß, findet Juna (7). „Sie vermisst ihre Freundinnen, mit denen sie Quatsch machen und lachen kann“, sagt Mutter Jeanette Janz (42) und behält dabei den dreijährigen Benjamin im Blick, der durch den Mülheimer Stadtgarten rennt. „Abends drehen beide richtig auf, sie sind nicht ausgelastet, auch wenn wir viel draußen sind. In der Kita ist oft high life, da können sie sich mit Gleichaltrigen austoben.“

Neuer Inhalt (3)

Schwierige Zeiten für Jeanette Janz, Benjamin und Juna

Nachdenklich sieht Daniela Sartor (37) zu ihrer Tochter Elisa (4) hinüber, die auf der Wiese sitzt. „Eigentlich wären das gerade ihre letzten Monate in der Kita, der Abschied und ihr Geburtstag sollten gefeiert werden, die Vorschulkinder waren voller Energie und Vorfreude“, sagt sie. „Ganz plötzlich passiert gar nichts mehr. Elisa ist seit sieben Wochen völlig isoliert.“ „Wenn mein Sohn mit seinem besten Freund telefoniert hat, ist er immer sehr traurig. Er möchte ihn unbedingt wiedersehen“, erzählt die Mutter eines Sechsjährigen. Gerade in schwierigen Zeiten würden Kinder mehr Zuwendung und Zeit als sonst benötigen, um über Ängste und Sorgen zu sprechen. Deshalb ist die Situation gerade für Kinder, die in Familien leben, „in denen die Beziehungen ohnehin angespannt sind, in denen die Nerven der Eltern blank liegen oder in denen die Eltern aufgrund wirtschaftlicher Sorgen nicht ansprechbar sind“, besonders kritisch, stellt die Deutsche Liga für das Kind fest.

Reizbarer, kraftloser und wütender

Trotz schwieriger Bedingungen haben viele Familien ihren Krisen-Alltag bislang mit großer Energie organisiert: Tagesabläufe durchgeplant, Kontakte per Video gepflegt, über Ängste gesprochen, Abstand gehalten. Und ihre Urlaubspläne über Bord geworfen. Nach sieben Wochen „24/7 zu viert zusammen auf 65 Quadratmetern“ sei jetzt viel Kraft verbraucht, sagt Adrian S., Vater von zwei Jungen. „Die Kinder sind reizbarer geworden, werden schneller wütend.“ Wenn Besprechungen anstehen, sei nicht immer Zeit, den Zweijährigen zum Mittagsschlaf zu bewegen, der Vierjährige wolle sich bewegen. Dafür müsste einer mit ihm in den Park gehen, doch das sei nicht machbar während der Arbeitszeit. „Man hat ständig ein schlechtes Gewissen weil man oft Auszeiten benötigt, etwa um Streit der Kinder zu schlichten. Vielen Kollegen geht es ähnlich, aber die Arbeit muss ja gemacht werden“, sagt der 37-Jährige. Um die Doppelbelastung noch weiter stemmen zu können, will er jetzt wöchentlich einen Urlaubstag nehmen. „Und das, obwohl wir zu zweit sind. “

Besonders großem Druck waren Alleinerziehende in den vergangenen sechs Wochen ausgesetzt – sie haben erst seit vergangenem Montag Anspruch auf einen Platz in der Notbetreuung. „Viele arbeiten wegen der Kinder in Teilzeit, wer dann Kurzarbeitergeld bekommt, hat zu wenig zum Leben“, sagt Ute Zimmerman vom Verband allein erziehender Mütter und Väter NRW. „Zu Hause arbeiten, ein Kleinkind betreuen und Schulkinder beim Lernen unterstützen - das ist alleine nahezu unmöglich.“ „Ich kann mich nicht auf meine Gesprächspartner am Telefon konzentrieren, wenn meine 20 Monate alte Tochter Charlotte im Raum ist“, bestätigt Sonia Dietsch, die im Jobcenter angestellt ist. „Ohne die Notbetreuung könnte ich nicht arbeiten.“

Verständnis für strikte Maßnahmen schwindet

Über eine schrittweise Öffnung der Kitas wird diskutiert. Doch was ist, wenn die Infektionszahlen wieder steigen? Das will sich Wencke R. gar nicht vorstellen: „Dass kein Ende in Sicht ist, zieht einen runter. Es ist beklemmend.“ Auch deshalb schwindet bei Eltern das Verständnis für die strikten Maßnahmen. Manche fordern, einen Kitabesuch für wenige Stunden pro Woche in Kleingruppen zu ermöglichen. Andere plädieren dafür, den festen Kontakt von zwei Familie zu erlauben. „Dann könnten die Kinder wieder richtig spielen und wären nicht isoliert. Und wir Eltern könnten sie abwechselnd betreuen“, sagt Jeanette Janz. Die Verbreitung des Virus einzudämmen sei weiter das oberste Ziel. „Doch während die Geschäfte voll sind und sich auf dem Markt in Mülheim die Menschen drängen, dürfen Kinder nicht einmal dann einen Freund treffen, wenn die Eltern aufpassen. Das ist bitter. Und auf Dauer einfach nicht durchzuhalten.“

Notbetreuung für Kitakinder

Seit Mitte März sind Kindertagesstätten und Schulen geschlossen: Sechs Wochen lang hatten nur Kinder von Eltern mit systemrelevanten Berufen Anspruch auf einen Platz in der Notbetreuung. Alle anderen, auch Alleinerziehende, mussten Arbeit und Kleinkindbetreuung gleichzeitig bewältigen.

Alleinerziehende dürfen seit dem 27. April die Notbetreuung nutzen, wenn sie berufstätig sind oder ihre Abschlussprüfungen in Schule oder Studium machen. In Köln gab es im Dezember 2019 6920 Alleinerziehende mit mindestens einem Kind unter sechs Jahren; 563 Kinder von Alleinerziehenden sind in der Notbetreuung gemeldet (28. April)

3464 Kinder sind derzeit insgesamt in der Notbetreuung; in städtischen und privaten Kitas (ohne Tagesmütter) werden normalerweise 42.000 Kinder betreut.

Anspruch auf einen Platz sollten nach Ansicht des Verbandes allein erziehender Mütter und Vater NRW nicht nur Alleinerziehende in der Prüfungsphase haben, sondern alle, die eine Schule besuchen, studieren oder eine Umschulung machen. Online-Unterricht und Kinderbetreuung seien nicht gleichzeitig möglich. Auch Alleinerziehende, die ein Kind mit Behinderung pflegen oder selbst gesundheitliche Einschränkungen haben, sollten einen Anspruch haben. Bundesweit sind 61 Prozent der Mütter und 91 Prozent der Väter mit einem zweijährigen Kind erwerbstätig. In Familien mit Kindern zwischen drei und unter sechs Jahren gilt dies für 73 Prozent der Mütter. (Statistisches Bundesamt)

Ein vierstufiger Kita-Wiedereinstieg ist in der Diskussion. Auf die Notbetreuung sollen eine erweiterte Notbetreuung, der eingeschränkte Regelbetrieb und der Normalbetrieb folgen. Ein Datum für den Wiedereinstieg gibt es nicht. (bos)

Rundschau abonnieren