Innovatives Konzept für SeniorenheimWo ein demenzkranker Boxer sein Glück findet

Lesezeit 4 Minuten
Herz-Jesu 1

Bewohner und Ex-Boxer Manfred Schaller hat hier seine Liebe zu den Blumen entdeckt.

Südstadt – „48 Kämpfe, 46 gewonnen, 18 durch KO.“ Als Boxer war Manfred Staller gefürchtet wegen seiner linken Haken zum Körper. „Ich war Leberspezialist“, erinnert sich der Endsiebziger, während er vor einem Hochbeet im Innenhof des Herz-Jesu-Heims steht und Geranien gießt. „Staller leidet an Demenz, ist aber als ehemaliger Sportler voller Bewegungsdrang“, erklärt Kristof Kliza, Regionalleiter bei der Franziska-Schervier-Altenhilfe GmbH, die das Herz-Jesu-Heim betreibt.

Seine Liebe zu den Blumen hat der Ex-Boxer erst kürzlich entdeckt, weshalb er jetzt mit dem Gießen beauftragt ist. Diese Aufgabe verdankt Schaller nicht zuletzt der Selbsterhaltungstherapie (SET), die Heimleiter Kliza 2017 im Herz-Jesu-Heim in Köln und im Seniorenheim St. Elisabeth in Frechen eingeführt hat.

Er stellt die Idee, die hinter der SET steht, an einem eindrücklichen Bild vor. „Wenn Sie mit einem kranken Bein zum Arzt gehen, wird der versuchen, dieses Bein zu heilen. Die SET kümmert sich um das gesunde Bein und will dessen Funktion so lange wie möglich erhalten.“ Rest-Ressourcen nennt Kliza das, was Demenzkranke noch können und was ihnen Spaß macht. „Wir müssen vor allem bei den Angehörigen viel Überzeugungsarbeit leisten. Die erwarten oft, dass wir den Gedächtnisverlust heilen, was nicht möglich ist.“

Senioren sollen Höchstmaß an Zufriedenheit erleben

Herzstück der SET sind Fallbesprechungen. Die koordiniert im Herz-Jesu-Heim Melanie von Hall. Alle drei bis sechs Monate treffen sich alle, die mit den Patienten zu tun haben: Pflegekräfte, der soziokulturelle Dienst, der behandelnde Neurologe und auch jemand aus der Hauswirtschaft. Sie tauschen sich über ihre Beobachtungen im Alltag aus und überlegen, welche Bedürfnisse und Fähigkeiten der jeweilige Patient hat. „Ziel ist, dass der Demenzkranke ein Höchstmaß an Zufriedenheit, Glück und Integration erlebt“, sagt von Hall.

So würden auch die sogenannten „Hinlauftendenzen“ geringer. „Früher nannte man das Weglaufen. Aber die Leute wollen ja irgendwo hin, nach Hause oder zu Verwandten“, erklärt Kliza. Was kann der Mensch noch? Was können wir erhalten?, seien die entscheidenden Fragen in der Fallbesprechung. Es gelte, Unter- wie Überforderung zu vermeiden. Bei einer Patientin konnten allein durch die Beobachtung und Besprechung ihres Alltags alle neurologischen Medikamente abgesetzt werden. „Jetzt geht sie viel öfter spazieren, kocht auch mit und wir haben eine gute Kommunikation“, sagt von Hall.

Herz-Jesu 2

Herz-Jesu-Heim-Leiter Kristof Kliza vor einem Wandgemälde in einem ehemaligen Gewächshaus; 

Alle Mitarbeiter im Herz-Jesu-Heim sind geschult, um die SET im Alltag umsetzen zu können. Sehr wichtig ist die Sprache. „Wir kritisieren und korrigieren nicht“, sagt Kliza. „Wenn jemand im Hochsommer auf die Idee kommt, es sei jetzt Zeit für Weihnachtseinkäufe, bestärken wir ihn und halten es für eine gute Idee, damit so früh wie möglich zu beginnen und alles zu erledigen“, erklärt Maria-Theresia Böhm, Leiterin des soziokulturellen Dienstes, die Strategie. 

Positive Kommunikation sei entscheidend, um die innere Unruhe der Patienten in der Balance zu halten. Das funktioniere auch bei Kleinigkeiten. „Wenn ich weiß, dass einem Bewohner Müllemer Böötche gefällt, singe ich das einfach mal im Vorbeigehen und schon hebt das die Stimmung. Ältere Damen mögen es, wenn man ihnen Komplimente für ihr Aussehen macht.“

Schwierig sei oft vor allem der Umgang mit Angehörigen. „Die informieren sich im Internet und glauben, sehr viel zu wissen“, sagt Kliza. Er möchte Angehörigen-Abende etablieren, bei denen sich die Betroffenen über ihre Probleme und Lösungen austauschen können. Ziel der Therapie des SET sei auch, so Kliza, die Zahl der Einweisungen in Krankenhäuser zu senken. Kliza wünscht sich mehr Unterstützung von den Krankenkassen.

Nur zwei Einrichtungen in NRW arbeiten nach dem Konzept

Vorbild für die Kölner ist die Einrichtung St. Bihildis in Mainz, wo die SET seit zehn Jahren angewandt wird. Das Herz-Jesu-Heim und das Seniorenheim St. Elisabeth seien NRW-weit die einzigen Alteneinrichtungen, in denen die SET angewendet werde, so Kliza. Dafür wurden beide von der Zertsozial GmbH zertifiziert. Das Herz-Jesu-Team habe wirklich großen Einsatz gezeigt, lobt der Chef. Wie Boxer Schaller. Der steht schon am nächsten Beet. Gießt. Und lächelt.

Rundschau abonnieren