Serie „Spurensuche in Köln“Als George Orwell 1945 als Reporter an den Rhein kam

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George Orwell

  • Was hatte Walter Gropius mit dem Bauhaus vor? Wo verfasste Karl Marx seine Schriften?
  • In unserer Serie „Spurensuche“ stellen wir Personen und ihre Zeit in Köln vor.
  • In dieser Episode: George Orwell, der vor 70 Jahren gestorben ist. Er kam als Reporter 1945 an den Rhein.

Köln – Es ist ein ausgesprochen seltsames Gefühl, sich nach den langen Kriegsjahren schließlich auf deutschem Boden zu befinden“, schreibt George Orwell im März 1945 aus Köln. „Die Propaganda, vor allem ihre eigene, hat uns glauben gemacht, dass sie alle hochgewachsen, blond und arrogant seien. Was man in Köln jedoch tatsächlich sieht, das sind eher gedrungene, dunkelhaarige Menschen, offensichtlich demselben Schlag zugehörig wie die Belgier jenseits der Grenze. Jedenfalls sind sie keineswegs besonders auffällig.“

So sieht er seine Erwartung an Deutschland, das Land des Kriegsgegners, alles andere als erfüllt: „Es ist schwer vorstellbar, dass es sich um die gleichen Menschen handelt, die gerade noch den europäischen Kontinent vom Ärmel-Kanal bis zum Kaspischen Meer beherrscht hatten und die auch unsere Insel hätten erobern können, hätten sie nur geahnt, wie schwach wir waren.“

Orwell war noch kein weltberühmter Autor

George Orwell war noch kein weltberühmter Autor, als er im Auftrag der britischen Zeitung „Observer“ über das befreite Frankreich ins zunehmend besetzte, aber noch nicht besiegte Deutschland reiste. Seine Bücher „Erledigt in Paris und London“ oder „Mein Katalonien“ sind inzwischen Klassiker, waren aber bis dato noch kaum wahrgenommen worden.

Für „Farm der Tiere“ hatte er 1944 endlich einen Verleger gefunden, doch erschienen war das Buch noch nicht. Und mit dem Roman 1984 (im Original: „Neunzehnhundertvierundachtzig“) hatte er noch nicht begonnen, als er am 12. März aus Paris in einem Brief schreibt, dass er versuchen wird, ein paar Tage Köln, oder wenn nicht Köln, dann einen anderen Teil der inzwischen besetzten Gebiete zu bereisen.

Als er es schließlich schafft, ist er auf das Ausmaß der Verwüstung, das er hier als Kriegsberichterstatter erlebte, so nicht vorbereitet, obwohl er selbst bereits über den 1000-Bomber-Angriff vom 30. Mai 1942 berichtet hatte. „Sich aus Zeitungs- und Rundfunkberichten ein Bild zu machen, ist nicht leicht, und so kann dem Mann auf der Straße nachgesehen werden, dass er glaubt, was wir Deutschland während der vergangenen vier Jahre zufügten, sei im Grunde dasselbe, was sie uns 1940 angetan haben“, schreibt Orwell in einem Zeitungsartikel: „Aber was die Briten noch immer nicht begriffen haben, da sie vergleichsweise verschont geblieben waren, ist die entsetzliche Zerstörungskraft des modernen Krieges und die langandauernde Periode der Verelendung, die nun auf die gesamte Welt zukommt. Wer durch zerbombte deutsche Städte läuft, empfindet erhebliche Zweifel am Fortbestand der Zivilisation...“ Die Grundlage dieses Eindrucks wurde in Köln gelegt.

Die verwüstete Innenstadt und das Chaos

„Der ganze Kern der Innenstadt, einst berühmt wegen seiner romanischen Kirchen und seiner Museen, ist ein einziges Chaos“, berichtet Orwell am 24. März aus der Domstadt, „zerklüftete Mauern, umgestürzte Straßenbahnwagen, zerschossene Denkmäler und gewaltige Schuttberge, aus denen Eisenträger wie Rhabarberstangen hervorragen.“ In Köln wird Orwell Zeuge, wie die Amerikaner in diesem Chaos wieder Ordnung schaffen wollen – eine Herkulesaufgabe: „Als die Amerikaner die Stadt einnahmen, waren viele Straßen unpassierbar, ehe sie von Bulldozern freigeschaufelt wurden. In der Stadt gibt es kein fließendes Wasser, kein Gas, keine Verkehrsmittel und für einige lebenswichtige Betriebe gerade nur soviel Strom, um zum Beispiel die Backöfen in ein paar Bäckereien in Gang zu halten.“

Vor allem nimmt der überzeugte Sozialist Orwell, der in „Mein Katalonien“ noch schockiert die Verfolgung anarchistischer und trotzkistischer Sozialisten durch ihre stalinistischen Genossen beschrieben hatte, in Köln erfreut zur Kenntnis, dass die Siegermächte versuchten, die besiegten Deutschen nach jenen rechtsstaatlichen Prinzipien zu behandeln, gegen die diese zuvor so barbarisch verstoßen hatten. „Zur Ahndung von Vergehen, die von Spionage bis zum Verstoß gegen Verkehrsregeln reichen, wurden drei verschiedene Gerichtshöfe eingesetzt“, berichtet Orwell von der Militärverwaltung und dem provisorischen Rathaus, eingerichtet in den einzigen fast unbeschädigt gebliebenen Bürogebäuden am Kaiser-Wilhelm-Ring 2-4 sowie 31-41. „Ich wohnte der ersten Sitzung des Mittleren Militärgerichts bei, das vergleichsweise schwere Vergehen behandelt und Gefängnisstrafen bis zu zehn Jahren verhängen kann.

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Ein junger, unappetitlich aussehender Nazi, einer der Führer der Kölner Hitler-Jugend, stand vor Gericht, nicht weil er dieser Organisation angehört hatte – die Militärregierung ließ bekanntgeben, dass die Zugehörigkeit zu einer Nazi-Organisation allein noch kein Vergehen darstelle –, sondern wegen der Verheimlichung seiner Mitgliedschaft und wegen des Versuchs, die Mitgliederliste der HJ vor den amerikanischen Behörden zu verbergen. Er wurde zu sieben Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von 10 000 Mark verurteilt, und zusätzlich für jede nicht bezahlte Mark zu einem weiteren Tag Haft. Dieses Urteil erscheint als ziemlich hart, falls solche Strafen überhaupt voll abgebüßt werden müssen. Aber er war ganz offensichtlich schuldig, und die Fairness des gesamten Gerichtsverfahrens war derart beeindruckend, dass selbst der deutsche Verteidiger anerkennende Worte fand.“

Depressiv und bereits lungenkrank war George Orwell bei seinem Köln-Aufenthalt, so dass er ins Krankenhaus eingewiesen werden musste. Derart kritisch schätzte Orwell seine Lage ein, dass er am 31. März seiner Frau Eileen Anweisungen schrieb, was sein literarischer Nachlassverwalter im Falle seines Tode tun solle. Anstelle einer Antwort erhielt er seinerseits ein Telegramm, dass Eileen bereits am 29. März in einem Krankenhaus in Newcastle gestorben sei. Bei einer eher harmlosen Operation hatte sie von der Narkose einen allergischen Schock erlitten. Vollgestopft mit Tabletten verließ Orwell auf eigene Verantwortung das Krankenhaus und reiste heim. Als er am 2. April in London ankam, war Eileen bereits beerdigt.

Im August 1945 erschien „Farm der Tiere“ und wurde umgehend zu George Orwells erstem Bestseller. 1947 jedoch wurde Tuberkulose bei ihm diagnostiziert. Kurze nachdem im Juni 1949 „Neunzehnhundertvierundachtzig“ erschien war, starb er am 21. Januar 1950 mit nur 46 Jahren.

Anselm Weyer (43) hat als Literaturwissenschaftler in Köln promoviert. Er bietet seit Jahren Stadtführungen für die AntoniterCity-Tours an.

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