Täter-Opfer-AusgleichKölner Verein „Waage“ stellt Betrieb nach 33 Jahren ein

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Besonders bei Gewaltverbrechen sprang der Täter-Opfer-Ausgleich ein, entlastete Gerichte und zog Täter zur Verantwortung.

Besonders bei Gewaltverbrechen sprang der Täter-Opfer-Ausgleich ein, entlastete Gerichte und zog Täter zur Verantwortung.

Köln – Gewaltverbrechen waren ihr Kerngeschäft. Vor allem wenn es zu Schlägereien gekommen war, wenn Menschen Opfer brutaler Überfälle wurden oder gar wenn ein Täter versuchte, jemand vor die Stadtbahn zu schubsen, bedienten sich Staatsanwälte gerne der Dienste der „Waage“ , des Vereins zur Förderung des Täter-Opfer-Ausgleichs. Doch nun musste die Waage selbst einen harten Schlag einstecken. Einen, von dem sie sich nicht mehr erholen wird. Der Verein hat seinen Betrieb eingestellt und bereitet gerade die Abwicklung vor. Damit gibt es keinen Täter-Opfer-Ausgleich mehr in Köln.

Seit rund 33 Jahren existiert die Waage. Eine lange Zeit, die nicht zuletzt dadurch zustande kam, dass die Arbeit des Vereins gerade im Justizapparat geschätzt wurde (siehe Kasten). Oberste Instanz für die Waage ist das Justizministerium NRW. Das hat die direkte Zusammenarbeit an das Oberlandesgericht delegiert. Staatsanwälte verweisen Fälle an die Waage. Richter verhängen in Gerichtsverfahren Geldauflagen zugunsten des Vereins. So lief die Zusammenarbeit seit über drei Jahrzehnten – abgesehen von den üblichen bürokratischen Hürden – in gegenseitiger Anerkennung.

Der Ton hat sich dramatisch verändert

Doch im Oktober vergangenen Jahres veränderte sich der Ton dramatisch. Der Rundschau liegt ein 15-seitiges Schreiben des Oberlandesgerichtes vor. Der Vorwurf darin: „Ein pflichtwidriger Verstoß gegen die Förderrichtlinien.“ Es bestehe Grund zur Annahme, dass die Waage „zu einer ordnungsgemäßen Projektabwicklung nicht in der Lage ist“. Warum erhebt das Oberlandesgericht die Vorwürfe? Die Kernkritik: Die Waage habe Rücklagen gebildet und diese nicht richtig deklariert.

Die Waage

730 Fälle aus dem Erwachsenen- und 408 aus dem Jugendbereich hat die Waage in 2017 übernommen. Die Erfolgsquote bei den Erwachsenen liegt bei 65 Prozent, bei Jugendlichen sogar bei 80 Prozent.

Zwei wesentliche Aspekte werden beim Täter-Opfer-Ausgleich verfolgt. Die Täter sollen sich mit ihrer Tat auseinandersetzen – mehr, als das durch eine Gerichtsverhandlung erreicht werden kann. Die Gerichte sollen durch die Übernahme der Fälle durch die Waage entlastet werden, da dadurch keine Verhandlung nötig ist.

Aufträge im Jugendbereich sind etwa Mobbing-Fälle. Dabei werden die Täter nicht nur dazu verpflichtet, das Opfer in Ruhe zu lassen. Teil des Ausgleiches ist es auch, dass die Täter positiv auf eine Gruppendynamik einwirken. Im Erwachsenenbereich stehen Körperverletzungen und Sachbeschädigungen im Vordergrund. Ausgleiche können aus Arbeitsleistungen und Ratenzahlungen. (ngo)

Der Hintergrund: Die Finanzierung des Täter-Opfer-Ausgleichs ist seit mehr als 30 Jahren ein Drahtseilakt. Um Fördermittel zu beantragen, muss der Verein die zu erwartenden Fälle für das kommende Jahre auf Basis der vergangenen Fälle prognostizieren. Bewilligt das Land die Förderung, gibt es pro Fall eine Pauschale von 279 Euro. Dazu kommt noch eine fallunabhängige Pauschale der Stadt Köln. Zehn Prozent muss die Waage an Eigenanteil aufbringen. Gezahlt wird der Zuschuss für ein Jahr. Ausgezahlt wird er pro Quartal. Bekommt die Waage weniger Fälle zugewiesen als prognostiziert, muss sie Fördergelder zurückzahlen. Sind es mehr, müsste sie die überzähligen Fälle eigentlich zurückweisen. Das hat sie aber nicht getan, aus Sorge darum, von den Staatsanwälten nicht mehr mit Fällen bedacht zu werden.

Die über der Prognose liegenden Fälle hat die Waage aus ihren Rücklagen bezahlt. Dass sie die bilden darf, hat ihr das Justizministerium ausdrücklich erlaubt. Das Geld stammt vor allem aus den von Richtern auferlegten Geldauflagen. Ein kleiner Teil sind Spenden. Im Jahr 2017 gab es rund 29 000 Euro aus Geldauflagen. An Spenden kamen rund 600 Euro rein.

Geld, das für die Waage aus noch einem anderen Grund überlebenswichtig war. Denn zumeist hinkte das Land mit seinen Haushaltsverabschiedungen und damit mit den Zuschussbewilligungen hinterher. Es war gängige Praxis, dass die Waage die Zahlung für das erste Quartal erst im Juni oder noch später bekam. Die Finanzierungslücke überbrückte sie mit ihren Rücklagen. Oft reichte das Geld dafür gerade so aus. In einem Schreiben der Waage an das Oberlandesgericht heißt es dazu: „Unsere Buchhaltung wurde bislang immer von allen Behörden ausdrücklich als ausgezeichnet gelobt. Wir können jede einzelne Ausgabe mit einem entsprechenden Beleg nachweisen.“ Dennoch, das Oberlandesgericht bleibt hart. Teilweise geht es dabei um Formalien. So seien die Rücklagen unter anderem nicht unter „privaten Mittel Dritter“ deklariert worden. Darum sei die Summe der Rücklagen auf die gezahlten Fördergelder anzurechnen. Die Konsequenz: „Zuviel gezahlte Zuwendungen sind zurückzuzahlen“, steht in dem Schreiben vom Oktober. Und das zurückgerechnet bis ins Jahr 2015.

Doch die Kritik geht weiter – bis ins kleinste Detail. Der Mietvertrag für die Büroräume der Waage in der Nähe des Barbarossaplatzes sei zu langfristig abgeschlossen, moniert das Oberlandesgericht. Dadurch gebe es keine Möglichkeit, einen günstigeren Vertrag abzuschließen. Auch soll die Waage nachweisen, wie die Büroräume möbliert sind. Warum wird statt einer einzelnen Putzfrau nicht eine eventuell kostengünstigere Putzfirma beauftragt, lautet eine weitere Frage. Bewirtungskosten werden in Frage gestellt. In allen Punkten werden Rückzahlungen angemahnt. Kosten für eine Weiterbildung zur Psychosozialen Prozessbegleiterin werden nachträglich nicht bewilligt.

Der Vereinsvorstand reagierte. In einem Schreiben, dass der Rundschau vorliegt, wird nachgewiesen, dass durch den langjährigen Mietvertrag die Miete nun weit unter dem heute üblichen Mietsatz liegt. Die Putzfrau arbeitet im Rahmen eines Minijobs. Stühle, Tische und Schränke „sind gebraucht oder stammen aus dem Knastladen“. Bei der Bewirtung handele es sich um Mineralwasser, angeboten bei den Besprechungen mit den Tätern und Opfern. Die Weiterbildung sei notwendig gewesen, weil die Waage es bei den Gewaltopfern oft auch mit traumatisierten Menschen zu tun habe.

Es half nichts. Das Oberlandesgericht behielt die Auszahlung der Fördermittel für das letzte Quartal 2018 ein. Ein fatales Signal vor allem an die Mitarbeiter der Waage. Aus Sorge um ihre Zukunft suchten sich die meisten eine neue Anstellung. Da half es auch nichts mehr, dass das Oberlandesgericht später die Mittel für das vierte Quartal „gekürzt und unter Vorbehalt“ doch noch auszahlte.

Noch 50 Fälle sind offen

„Wir mussten die Notbremse ziehen, um nicht sehenden Auges in die Insolvenz zu rutschen“, sagt der noch verbliebene Geschäftsführer der Waage, Norbert Florin. Zu weiteren Details will er sich nicht äußern. Der Betrieb der Waage ist eingestellt. Der Verein befindet sich gerade in der Abwicklung. Der Vereinsvorstand hofft, dass die noch vorhandenen Rücklagen für die Nachforderungen des Oberlandesgerichtes reichen. Notfalls will die Waage die Forderungen juristisch anfechten.

Einen Kompromiss kann es wohl nicht mehr geben. Rund 50 noch laufende Fälle sind offen. Die Rundschau hat im NRW-Justizministerium nachgefragt, was aus denen nun werden soll. Die Antwort: „Der Verein hat Fördermittel auf der Grundlage der eingegangenen Fälle erhalten.“ Soll heißen: Die Waage sei da noch in der Pflicht. Und dennoch steht weiter unten in der schriftlichen Antwort: Das Oberlandesgericht sei gebeten worden, „sich auf eine zeitnahe Übernahme der Fälle vorzubereiten“. Also kommen die 50 Fälle wohl wieder zurück zum Gericht, denn einen Täter-Opfer-Ausgleich gibt es ja nicht mehr in Köln.

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