Lagerkoller in der WohnstätteMitarbeiter der Lebenshilfe Weilerswist an ihren Grenzen

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Froh über ihren großen Garten sind die Bewohner und Mitarbeiter der Wohnstätte der Lebenshilfe in Weilerswist. 24 teils mehrfach behinderte Erwachsene leben dort unter einem Dach. Ihr Alltag hat sich seit Corona massiv verändert.

Froh über ihren großen Garten sind die Bewohner und Mitarbeiter der Wohnstätte der Lebenshilfe in Weilerswist. 24 teils mehrfach behinderte Erwachsene leben dort unter einem Dach. Ihr Alltag hat sich seit Corona massiv verändert.

Weilerswist – „Am schlimmsten ist das Heimweh“, erzählt Jens Löbel, der in der Wohnstätte der Lebenshilfe Kreisvereinigung Euskirchen für geistig und teils auch körperlich behinderte Menschen in Weilerswist lebt. Normalerweise fährt der 40-Jährige alle zwei Wochen über das Wochenende zu seiner Mutter. Auch in der Wohnstätte bekommt er unter normalen Umständen ab und zu Besuch. Doch wegen der Corona-Pandemie herrschen dort seit Mitte März ein striktes Besuchsverbot und massive Kontaktbeschränkungen.

Werkstätten sind geschlossen

„Durch Corona ist unsere ganze Tagesstruktur weggebrochen“, berichtet die Leiterin der Wohnstätte, Heidi Kunen. 19 der 24 Erwachsenen, die dort leben, gehen normalerweise teils Vollzeit in den Nordeifelwerkstätten in Ülpenich arbeiten und sind in der Woche von 7 bis 17 Uhr nicht zu Hause. Doch seit dem 19. März sind auch die Werkstätten geschlossen und die Bewohner sind die ganze Woche auf Betreuung und vor allen Dingen Ablenkung angewiesen. Erst seit ein paar Tagen dürfen sie die Wohnstätte in Begleitung für einen kurzen Spaziergang verlassen. „Was auf der einen Seite Schutz für die Bewohner vor der Ausbreitung des Coronavirus bedeutet, bedeutet auf der anderen Seite eine psychosoziale Isolation, die krisenhafte seelische Entwicklungen mit sich führen kann“, erklärt Bernd Milz, der Geschäftsführer der Lebenshilfe. Er spricht von einem „Dilemma“.

Stolz auf die Corona-Zeitung, an der er mitgewirkt hat: Jens Löbel.

Stolz auf die Corona-Zeitung, an der er mitgewirkt hat: Jens Löbel.

Die Schlüssel, um den seelischen Zustand der Bewohner zu verbessern, seien Aufklärung und Trost, sagt Jana Schlepphorst, die eine der vier Wohngruppen betreut: „Wir schauen mit den Bewohnern jeden Tag Kindernachrichten und Nachrichtensendungen für Erwachsene, damit sie verstehen, was gerade passiert.“ Außerdem habe sie mit den Bewohnern eine Zeitung mit Infos zum Coronavirus und Tipps zum richtigen Händewaschen erstellt. „Mit Bildern können wir den Bewohnern die Regelungen gut vermitteln“, berichtet die 29-Jährige weiter.

Ob tatsächlich alle Bewohner, die teilweise schwerst mehrfach behindert seien und nicht sprechen könnten, verstehen, warum ihre Familie nicht mehr zu Besuch kommt, könne sie nur schwer einschätzen, sagt die Leiterin. Die Bewohner merkten jedoch, dass der Tag anders abläuft als sonst. „Viele sind unruhig, fangen plötzlich an zu weinen oder nässen sich ein“, berichtet sie: „Das Besuchsverbot führt bei vielen mittlerweile zum Lagerkoller.“ Deshalb komme es auch häufiger zu Streit unter den Bewohnern. Viele vermissten auch die Umarmungen, so Schlepphorst: „Körperkontakt ist bei der Arbeit mit Schwerstbehinderten sehr wichtig. Diese Art der Kommunikation fehlt uns jetzt.“ Für die Bewohner und das Personal gelten abgesehen von der Pflege auch die Abstandsregelungen.

Eine Herausforderung für die Betreuer: Weil die Bewohner nicht mehr arbeiten dürfen, wurde das Freizeitangebot aufgestockt.

Eine Herausforderung für die Betreuer: Weil die Bewohner nicht mehr arbeiten dürfen, wurde das Freizeitangebot aufgestockt.

Die Freizeitangebote in der Wohnstätte sind aufgestockt worden, um die Bewohner zu beschäftigen. Jens Löbel vertreibt sich seine Zeit am liebsten mit Kreuzworträtseln, Basteln und dem Fernsehen, wie er erzählt. Auch den Rasen hinter dem Haus habe er schon gemäht. Die Bewohner haben dort ein Lagerfeuer und Stockbrot gemacht. Auch Bingo, Sport und Entspannung stehen auf dem Programm. „Dass wir hier nun immer alle zusammen sind, ist für die Bewohner ein erheblicher Stressfaktor. Da müssen sie auch mal runterkommen“, sagt Schlepphorst.

Videotelefonat mit den Familien

Um den Kontakt zu den Familien so gut es geht zu erhalten, telefonieren die Bewohner oft mit ihren Angehörigen. Für die, die nicht sprechen können, habe man es mit einem Videotelefonat versucht, so Schlepphorst weiter. „Allein an der körperlichen Reaktion haben wir gemerkt, wie sehr sie das gefreut hat“, erklärt Kunen.

Video-Anrufe sollen die Bewohner mit ihren Familien verbinden.

Video-Anrufe sollen die Bewohner mit ihren Familien verbinden.

Viele Eltern hätten schon Geschenke vor die Tür gelegt. Die Firma Hussel hat Süßwaren gespendet, mit denen Osternester für die Bewohner gefüllt wurden, die die Betreuer im Garten versteckt haben. „Zucker wirkt auf uns alle beruhigend“, so Kunen. Auch die etwa 45 Mitarbeiter der Einrichtung gingen zurzeit an ihre Grenzen. Sie arbeiteten nicht nur mehr Stunden am Tag, sondern auch mehr Tage in der Woche, als noch vor der Ausbreitung des Coronavirus.

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„Wir arbeiten alle mit Volldampf, aber ich kann meine Mitarbeiter da nur dicke loben“, sagt die Chefin.

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