Letzte Strophe ist gesprochenDer Sprachkünstler Lutz Görner wird 78 Jahre alt

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Lutz Görner steht vor einem Gemälde.

Lutz Görner ist wieder Oberberger. Der Rezitator ist deutschlandweit bekannt, doch in Oberberg ist er kaum aufgetreten. „Hier wollten die Leute keine 20 Mark für Gedichte bezahlen.“

Der Rezitator Lutz Görner aus Gummersbach-Dieringhausen wird am 1. Januar 78 Jahre alt. Er hat beschlossen: „Jetzt hab’ ich wirklich genug gemacht.“

Eigentlich sollte es vor drei Jahren für Lutz Görner ein rauschender Abschied von der Bühne werden, eine „grandiose Tournee“ mit Beethoven- und Liszt-Programm durch Österreich, zusammen mit 420 Fans, die ihn begleiten wollten. Doch Corona machte einen Strich durch die Rechnung.

Jetzt tut es ein nüchterner Newsletter, verschickt an 17.000 Mailadressen. „Das sind alles treue Zuschauer, die als Studenten kamen, als man noch zu Gedichten ging, und die mit mir alt geworden sind“, resümiert der Mann, der in Zeitungsberichten immer wieder als „Deutschlands bekanntester Rezitator“ gerühmt worden ist. „Sprachkünstler“ ist ihm lieber.

Lutz Görner ließ sich zum Balletttänzer ausbilden

Am 1. Januar wird Lutz Görner 78 Jahre alt. Er hat beschlossen: „Jetzt hab’ ich wirklich genug gemacht.“ Geboren wurde Lutz Görner in Zwickau, „als Steißgeburt im Luftschutzkeller“. „Ich war noch Bürger Adolf Hitlers, zum Glück nur fünf Monate lang.“ Im Rheinland wuchs er auf, erbte von der Mutter die Liebe zum Theater, ließ sich zum Balletttänzer ausbilden. „Das brachte fünf Mark fürs Tanzen und 2,50 Mark als Statist.“

Er verkaufte Ledergürtel am Ku’damm in Berlin, arbeitete als Schauspieler in München und Berlin. „Das war eine Schnapsidee, das war mir zu flachbrüstig. Ich wollte Leuten und vor allem Kindern was beibringen.“ Und was? Gedichte!

„Gedichte müssen es auf den Punkt bringen. Das sind keine Schwafelorgien.“ Görner findet es schön, wenn Zuschauer dem Rezitator versichern, durch ihn einen ganz neuen Zugang zur Lyrik gefunden zu haben. Oder wenn Kinder auf der ersten Italienreise der Familie seine Platten gehört haben und später in der Schule mit dem Zauberlehrling punkten konnten.

Gedichte müssen es auf den Punkt bringen. Das sind keine Schwafelorgien.
Lutz Görner

Von 1992 bis 1999 leitet Lutz Görner in Köln sein eigenes „Rezitheater“. Er hat Auftritte in ganz Deutschland, nachdem er mit der Familie Ende der 1970er Jahre ins Oberbergische gezogen ist, zuerst nach Wehnrath, später nach Hübender, in eine Landschaft abseits von Verkehr und Dreck, mit Pferden für die Kinder und regelmäßigen Besuchen bei Huskyrennen auf der Belmicke.

Damals habe er versucht, möglichst wenig aufzutreten, anfangs 250-mal im Jahr, später nur noch 120-mal. „Ich habe nur gearbeitet, wenn ich Schulden hatte. Ich hatte keinen Ehrgeiz“, sagt Görner heute. „Ich konnte gut in die Geheimnisse der Gedichte reinkommen und sie eindringlich vermitteln, so dass es den Leuten gefallen hat.“ Auftritte in Oberberg? Kaum. „Hier wollten die Leute keine 20 Mark für Gedichte bezahlen.“

Anderswo schon: In 17 Jahren hat er zweieinhalbtausend Gedichte vorgetragen. Von 1993 bis 2010 lockte er   jeden Sonntagmorgen mit der 3sat-Sendung „Lyrik für alle“ bis zu 250 000 Zuschauer vor den Fernseher. Und mehr als vier Millionen CDs hat er als „Lyrikwürfel“ verkauft.

Aus geplanten zwei Monaten in Weimar wurden 16 Jahre

Selber dichten? Nein, da gelte es, das bedrohlich weiße Blatt Papier zu überwinden, und wer könne sich schon mit Bert Brecht messen? Ach ja, die Mitgliedschaft in der DKP, 1983 abrupt beendet. Was ihm geblieben ist: ein linkes Weltbild, „was man so nennt“. Sicher spielte es auch 1999 eine Rolle beim Umzug nach Weimar, wenn auch wohl nicht die entscheidende. „Weimar! Diese Vibrations! Der kulturelle Mittelpunkt Deutschlands. Alle großen Geisteskoryphäen seit Bach haben da gewohnt und gearbeitet, Wieland, Goethe, Schiller!“

Aus zwei Monaten, die er bleiben wollte, wurden 16 Jahre. Zu lange, findet er heute. Und schließlich war es enttäuschend. „Wir wollten mit den Leuten aus dem Osten zusammen sein, aber die nicht mit uns.“ Und dann der politische Niedergang. „Wer heute nach Weimar geht, findet genug Freunde, wenn er ein rechtsradikaler Verbrecher ist.“

Er kommt irgendwann, bald, nach dem Leben, das ich geführt habe.
Lutz Görner denkt und wartet auf den Tod

Zeit für Veränderung.   Lutz Görner entdeckt die romantische Musik für sich, „eine fortschrittliche Musik“. Lyrik trifft Liszt, auch Beethoven, Chopin, Schubert und Wagner. Selbst Musik machen? Als er 15 Jahre alt war, hat er sich zur Konfirmation die goldene Trompete seines Onkels gewünscht – und bekam stattdessen eine lederne Schreibmappe. Er wurde kein Trompeter. Später nennen ihn einige „die Posaune“, wegen seiner lauten Stimme.

Von 2012 bis zum Corona-Jahr 2020 tritt Lutz Görner auf mit der jungen Pianistin Nadia Singer. „Wunderbare Jahre“, denen er heute mit Blick aus den bodentiefen Fenstern in den winterlichen Garten in Dieringhausen still nachsinnt. Seit acht Jahren wohnt er wieder in Oberberg.   „Es war der Ginkgobaum im Garten, der den Ausschlag gab für die Entscheidung.“

Görner lebt ohne Handy, ohne Kreditkarte, ohne Auto. Von den meisten Büchern hat er sich getrennt.   Seine Herzkrankheit erwähnt er nur in der Rundmail. „Ich sitze hier und denke nach und warte auf den Tod. Er kommt irgendwann, bald, nach dem Leben, das ich geführt habe“, sagt der Sprachkünstler. „Ich habe ein sehr schönes Leben führen dürfen. Seit ich damals mit dem Ballett angefangen habe, habe ich mich nur mit schönen Dingen beschäftigt.“

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