Morsbach im NationalsozialismusSelma wurde nur zehn Jahre alt
Morsbach – Bisher war allein bekannt, dass die vierköpfige jüdische Familie Levy von Morsbach aus deportiert worden war und 1942 in der Tötungsanstalt Maly Trostinec (Weißrussland) umgebracht wurde. Doch nun ist auch das Schicksal eines in Morsbach geborenen Mädchens bekannt geworden: Selma Lind.
Nach Recherchen der Heimatforscher Klaus Textor und Volker Rosenkranz vom Arbeitskreis Heimatgeschichte Daadener Land (Westerwald) hat sich die Familie Lind in den 1930er Jahren und zu Beginn der 1940er Jahre im Norden des Kreises Altenkirchen sowie im Raum Siegen und Morsbach aufgehalten. Sie gehörte zur Volksgruppe der Sinti und Roma, die damals als „Zigeuner“ am Rand der Gesellschaft standen und in der NS-Zeit verfolgt wurden.
In den 1930er Jahren bekam die Familie vier Kinder
Damals zog die Familie Lind von Ort zu Ort und von Tür zu Tür. Vater Adam Lind, 1901 geboren in Baden-Württemberg, bezeichnete sich selbst als Korbmacher und Musiker. Er hatte keinen festen Wohnsitz. Seine Frau Walburga, Jahrgang 1915, war eine geborene Winter und stammte aus Bamberg. Die vier Kinder der Eheleute Lind kamen in den 1930er Jahren auf die Welt, der Sohn Johannes (1931) und die Töchter Selma (1933), Rosa (1935) und Luzia (1937).
Ob das Hausierer-Ehepaar Lind Anfang 1933 auf ihren Verkaufsmärschen durch den nördlichen Westerwald und den Süden des Oberbergischen eher zufällig in Morsbach weilte, kann heute nicht mehr ermittelt werden. In Morsbach war die Familie jedenfalls nie polizeilich gemeldet. Am 10. Februar 1933 erblickte dort aber die kleine Selma das Licht der Welt, vermutlich im alten Krankenhaus.
1938 wird Vater Adam deportiert
Vater Adam meldete am folgenden Tag seine Tochter beim Morsbacher Standesamt an und erklärte, „bei der Niederkunft nachmittags sieben Uhr zugegen gewesen zu sein“. Damals waren die Eltern noch nicht verheiratet. Die standesamtliche Trauung holten die Linds schließlich am 11. Juli 1933 in Niederschelden nach. Ende der 1930er Jahre wohnte die Familie Lind zeitweise in den Ortschaften Derschen und Nisterberg in der Nähe von Daaden. Die vier Kinder besuchten damals die Volksschule in Nisterberg. Von da führte das Schicksal der schließlich als „Zigeuner“ immer mehr ausgegrenzten Familie zu einem traurigen Ende: Im Sommer 1938 wurde Vater Adam ins KZ Buchenwald deportiert und dann 1940 ins KZ Dachau verschleppt, dort starb er am 16. April 1942.
Nach der Verhaftung ihres Mannes musste Walburga Lind den Recherchen des Arbeitskreises Heimatgeschichte zufolge mit den Kindern auf Veranlassung des Landesfürsorgeverbandes in ein kleines, lediglich aus einem Raum bestehendes und außerhalb Nisterbergs gelegenes Gartenhaus ziehen. Ab dem Oktober 1939 durfte sie, wie alle anderen Sinti und Roma im Deutschen Reich, den Wohnort nicht mehr verlassen.
Kurz vor Weihnachten des Jahres 1942 wandte sich ein Klassenlehrer der Volksschule Nisterberg an das zuständige Bürgermeisteramt in Daaden. Er bat um die „Ausschulung von Zigeunerkindern wegen Gefährdung der Gesundheit und der Schulzucht der übrigen Schulkinder“. Der Bürgermeister kam diesem Antrag unverzüglich nach. Zudem schaltete der Lehrer auch noch die Polizeibehörde ein, um die Kinder vom Unterricht ausschließen zu lassen. Er betonte dabei, dass der Vater „Zigeuner, d. h. nicht Reichsdeutscher“ gewesen sei und daher eine Ausschulung „wohl keine Bedenken mit sich bringen“ würde.
In Koblenz wurde die Kriminalpolizei hellhörig
Der Verweis der Kinder von der Schule schien dem Bürgermeister aber nicht auszureichen. Zu Beginn des Jahres 1943 meldete er Walburga Lind und ihre Kinder der Kriminalpolizeistelle in Koblenz und regte an, die „Frau Lind in ein Arbeitserziehungs- oder dergleichen Lager“ sowie „die Kinder in ein entsprechendes Heim“ einzuweisen. Die Kripo in Koblenz wurde hellhörig, denn bislang lag dort kein Material über die „Zigeunerfamilie“ vor.
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Zwei Monate später, am 10. März 1943, kündigte die Koblenzer Kripostelle der Kommandantur des Konzentrationslagers Auschwitz einen „Transport Zigeuner von 149 Personen, 40 Männer, 44 Frauen und 65 Kinder“ an, darunter die Familie Lind. Alle Mitglieder starben innerhalb kurzer Zeit. Die in Morsbach geborene Selma wurde am 25. November 1943 im Alter von zehn Jahren getötet.
Der Eintrag im Morsbacher Standesamt aus dem Jahr 1974 lautet: „Gestorben in Auschwitz-Birkenau“.