Nümbrecht-BierenbachtalLeben in einer anderen Zeit – WG für Menschen mit Demenz

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Bierenbachtal – Gerahmte Fotos zeigen ein weißes Sportboot, das über den Rhein pflügt. Boote sind die große Leidenschaft von Horst (Name geändert). Und Lokomotiven. „Die sammele ich“, sagt der 73-Jährige und deutet auf eine verglaste Vitrine, in der Modelleisenbahnen parken. Vor wenigen Wochen hat der Bonner sein Zimmer in der Wohngemeinschaft bezogen, seither lebt er in der Nümbrechter Ortschaft Bierenbachtal.

Rund 5500 Oberberger sind an Demenz erkrankt

Nach Angaben des Oberbergischen Kreises sind derzeit rund 5500 Menschen an Demenz erkrankt. Die Zahl der stationären Pflegeeinrichtungen gibt Kreissprecherin Iris Trespe mit 50 an, davon seien 13 Wohngemeinschaften wie die in Nümbrecht-Bierenbachtal. Diese Gemeinschaften würden zumeist von privaten Unternehmen geführt, eine WG befinde sich dagegen in der Obhut der Diakonie. Sie ist in Radevormwald beheimatet. Die stationären Pflege-Einrichtungen werden dagegen von den Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen und ebenso von privaten Anbietern unterhalten.

Jüngst haben die Bewohner der Demenz-WG in Bierenbachtal einen WG-Vorstand gewählt und dann entschieden, wie viel Geld sie in die gemeinsame Hauskasse einzahlen wollen. Von den 250 Euro, die ab sofort jeder der Bewohner monatlich einzahlt, werden laut Hausleiterin Stefanie Oesinghaus alle Dinge eingekauft und bezahlt, die im Alltag benötigt werden, „von den Lebensmitteln hin bis zu den Putzsachen“.

Ausflüge und tägliche Spaziergänge gehören ebenso zu dem Alltag, der jederzeit so weit wie möglich selbstbestimmt ablaufen soll. Hilfe sei aber immer zur Stelle, betont die Hausleiterin, „vom ersten Moment des Tages an ist hier niemand allein“. Ein detaillierter Tagesplan regelt die Woche, täglicher Kaffeeklatsch und Gymnastik inklusive. (höh)

Aber das weiß er nicht: Für Horst geht das alte Leben weiter. Er wohnt in Bonn, nicht in Bierenbachtal. In Bonn liegt sein Boot am Rheinufer. Und er ist erst 60, und keine 73 Jahre alt. Horst leidet an Demenz. Seine innere Uhr ist sozusagen stehen geblieben. „Neulich hat er sich den Mantel angezogen und stand mit der Aktentasche im Flur, weil er zur Arbeit gehen wollte“, schildert Stefanie Oesinghaus. Sie leitet das Haus Bierenbachtal, in das diese besondere Wohngemeinschaft eingezogen ist, nachdem der Kölner Pflegeanbieter Amicus die Immobilie im Juni vergangenen Jahres gekauft und von Grund auf saniert hat. Zwölf Menschen, die an Demenz erkrankt sind oder besonderer Pflege bedürfen, sollen dort so normal wie möglich leben.

„Nur ein Zimmer ist zurzeit noch frei“, sagt Amicus-Geschäftsführer André Jonas, der dieses Unternehmen auch gegründet hat. Die jüngste Bewohnerin ist 58, die älteste 94 Jahre alt. Im vergangenen Oktober standen die ersten der etwa 25 Quadratmeter großen Zimmer zur Verfügung. „Ziel ist es, die Selbstständigkeit unserer Patienten zu erhalten und zu fördern“, erklärt die 39 Jahre alte Oesinghaus. „Aktivierende Pflege“ nennen die Fachleute dieses Konzept.

So kommt etwa kein fertiges Essen auf den Tisch: „Wir kochen alle zusammen.“ Auch werde kein Bewohner von den Pflegekräften gewaschen, solange sie sich selbst pflegen können. „Jeder ist auch für das eigene Zimmer verantwortlich“, ergänzt Oesinghaus und betont, dass niemand allein gelassen werde, jeder Handgriff werde von ihr und den Kollegen begleitet. 15 Beschäftigte hat das Haus Bierenbachtal.

Im obersten Stockwerk hat jüngst Margarete ihr Zimmer eingerichtet (Name ebenfalls geändert). Jetzt bringt die 73-Jährige aus Stuttgart das Bett in Ordnung. Ringsherum stehen einige Umzugskartons, die noch ausgepackt werden wollen. Margaretes Töchter haben die Seniorin nach Nümbrecht geholt, damit die Mutter in der Nähe ist. „Als Studentin habe ich schon mal in einer WG gewohnt“, sagt Margarete. Jetzt müsse sie sich wieder an ein Leben in der Gemeinschaft gewöhnen. „Aber das klappt gut.“

Die Demenz ist bei den Bewohnern unterschiedlich ausgeprägt. Doch auch wenn die Erkrankten bettlägerig werden, sollen sie in der Gemeinschaft bleiben. Den Tagesablauf bestimme jeder selbst, berichtet Stefanie Oesinghaus. „Das gilt auch für die Zeit des Aufstehens und für das Schlafengehen.“ Das gesamte Gebäude ist mit Smart-Technik ausgerüstet. LED-Leuchten unterstützen den Tag-Nacht-Rhythmus: So leuchtet der Morgen blau, Glückshormone werden freigesetzt. Der Abend erstrahlt dagegen in warmen Farben, diese machen müde. Gerade aber ist es später Vormittag und einige der Bewohner sitzen im Kreis.

Bewegungstraining ist angesagt, unter Anleitung der Betreuungsassistentin Karin Baer fliegt ein Ball von einem Bewohner zum anderen, auch Horst hat sich zu dieser Runde gesellt. „Es ist unglaublich schön zu sehen, wie die Bewohner aufblühen“, sagt Hausleiterin Oesinghaus und erzählt von der ersten Bewohnerin, die ihr Sprachvermögen verloren hat. „In der Gemeinschaft kann sie wieder kommunizieren.“

www.haus-bierenbachtal.de

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