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„Gegen Gewalt und Missbrauch“Beraterin Monica Weispfennig im Interview

9 min

Monica Weispfennig berät Betroffene von Gewalt im Verein nina + nico.

Seit 25 Jahren berät Monica Weispfennig für den Verein nina + nico Kinder und Frauen, die physische, psychische oder sexulisierte Gewalt erfahren haben. Nina Sommer hat mit ihr gesprochen.Wofür steht nina + nico?Weispfennig: Wir beraten Mädchen, Jungen und Frauen, die Gewalterfahrung erlebt haben. Es geht in allen Fällen um sexualisierte, psychische, physische Gewalt, Misshandlungen, aber auch Mobbing- oder Cybermobbing-Erfahrungen.

Seit 25 Jahren engagieren Sie sich nun schon bei nina + nico. Warum haben Sie sich damals ausgerechnet für diesen Verein entschieden?

Es geht mir seit Beginn meines Lebens um Gerechtigkeit. Und ich denke, es liegt auf der Hand, dass Frauen und Kinder leider in unserer Gesellschaft am unteren Ende stehen und wenig Lobby haben. Ich habe selbst Gewalt in der Ehe erlebt und weiß auch, wie hilflos man sich fühlt. In meiner Generation war ja die landläufige Meinung noch so: Wenn der Mann säuft, ist die Frau schuld. Wenn der Mann fremdgeht, ist die Frau schuld.

Für die Männer gab es immer eine Entschuldigung für alles, und die Frauen hatten es auszubaden. Man muss sich immer vor Augen halten, dass Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1997 strafbar ist und dass unter anderem Friedrich Merz einer von denen war, der laut „Nein“ gerufen hat, als der Antrag von den Grünen gestellt wurde.

Als die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Gummersbach die Beratungsstelle 1991 ins Leben gerufen hat, erntete sie viel Häme. Warum und aus welcher Richtung?

Sowohl das Kreisjugendamt, die Polizei, die Politiker haben damals gesagt: „Also so was, das gibt es doch überhaupt in Oberberg nicht“. Die verstummten dann aber ganz schnell, als Anrufe von ganz vielen Schulen kamen und die Lehrer um Hilfe baten, weil sich Kinder in ihren Augen seltsam verhielten und sie nicht damit umzugehen wussten. Das war einfach ein Thema, auch damals schon.

1996 zog sich die Stadt aus der Finanzierung heraus, unter anderem weil die Anfragen inzwischen aus dem gesamten Kreisgebiet kamen. Das hat Sie und acht weitere Frauen bewogen, den Verein nina + nico zu gründen. Gab es nie Bestrebungen des Kreises, die Finanzierung zu tragen?

Nein, wir wurden nach einer Anlaufzeit mit 5113 Euro jährlich unterstützt. Es gab damals in Bergneustadt den Verein „Hoffnung“, der sich auch dem Kampf gegen sexualisierte Gewalt und Missbrauch gewidmet hat. Wir haben versucht, uns gemeinsam aufzustellen, aber es gab in Bergneustadt ein zu großes Veto dagegen, sodass der Kreis sich darauf zurückzog, beide anteilig zu unterstützen. Den Verein „Hoffnung“ gibt es seit einigen Jahren nicht mehr.

Haben Sie danach erneut einen Versuch unternommen?

Wir haben immer wieder versucht, über den Kreis und die Stadt Gummersbach eine feste halbe Stelle finanziert zu bekommen, um so beim Land, Bund oder EU einen Antrag auf Finanzierung stellen zu können, aber bis heute ist daraus nichts geworden. Und wir selbst können die Kosten für eine feste Stelle nicht stemmen.

Dafür müssten wir langjährige Honorarkräfte kündigen, das geht einfach nicht. Sie sind ein fester und wichtiger Bestandteil des Vereins. Jedoch haben wir jetzt mit dem Antrag an das Land NRW auf eine spezialisierte Beratungsstelle bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche bis 27 Jahre einen neuen Vorstoß gewagt und hoffen, dass wir berücksichtigt werden.

Wie erfahren Sie davon, dass jemand in Not ist und Ihre Hilfe braucht?

Zum Teil über die Schule. Lehrer wenden sich an unsere Beraterinnen, die einmal in der Woche in den Schulen sind, und machen auf die Kinder aufmerksam. Und dann suchen wir das Gespräch und versuchen, Vertrauen zu schaffen. Manche melden sich per E-Mail oder Telefon, über unsere Notfallnummer. Andere Wege führen über Empfehlungen durch den Weißen Ring, den Hausarzt und so weiter.

Wie gehen Sie dann vor?

Dann schauen wir, welcher der richtige Weg ist. Ein Kind, das Gewalt erfahren hat, möchte natürlich, dass das sofort beendet wird, aber es möchte nicht aus der Familie raus. Die Frau, die Gewalt erfahren hat, möchte im Grunde auch nicht alles stehen und liegen lassen. Da muss man genau schauen, wie wir flankierend weitergehen – manchmal natürlich bis zum Gericht, zur Inobhutnahme, zur Polizei.

Ist der Bedarf in den vergangenen Jahren gestiegen?

Ja. Wenn es um sexualisierte Gewalt geht, dann liegt das mittlerweile zwischen 40 bis 50 Prozent im Jahr. Anfänglich hatten wir etwa 100 Anfragen im Jahr. Heute sind es bis zu 550.

Sind Cybermobbing und sexualisierte Gewalt im Netz ein zunehmendes Problem?

Ein immer größeres. 2009 hat das etwa begonnen. Damals konnten wir uns das alles noch nicht vorstellen. Wir bekamen Anrufe von Eltern, die auf dem Handy des Kindes entdeckt hatten, dass es erpresst wird, weil es kompromittierende Fotos, Nacktfotos, Fotos unter der Dusche oder ähnliches, an einen wesentlich älteren Menschen geschickt hat. Und dieser fordert dann Geld oder mehr Fotos und droht mit deren Verbreitung. Dass es so etwas einmal geben wird, hätte ich mir vor 20 Jahren nicht vorstellen können.

Was hat sich verändert?

Jugendliche gehen damit heute natürlich viel freier um, aber dennoch muss man das Bewusstsein dafür schärfen, dass Vertrauen missbraucht wird. Kinder müssen einfach wissen, dass es theoretisch die ganze Welt sehen und es auch nicht mehr gelöscht werden kann, wenn es einmal im Netz ist. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie viele Kinder heute schon pornografisches Material auf ihrem Handy haben, es weitergeben und sich überhaupt nicht bewusst sind, wie schrecklich das für das Kind ist, das da abgebildet ist. Weil sie dafür gar kein Bewusstsein entwickelt haben.

Was hat Sie bei all den Gesprächen besonders erschüttert?

Dass in den Köpfen von Menschen Gewalt gegen Kinder, Missbrauch, sexuelle Handlungen mit Kindern überhaupt existieren und machbar sind. Ich finde, unsere wichtigste Aufgabe als Eltern ist doch, so gut wir es vermögen, eine Kindheit in Verständnis und Vertrauen und ohne Angst und Zwang oder körperliche Gewalt zu gestalten.

Durch Lügde, Bergisch Gladbach und Münster wurde uns noch einmal deutlich erschreckend vor Augen geführt, bis zu welchen unglaublichen Exzessen es führen kann. Dass ein Vater sein eigenes oder angenommenes Kind in solchen Formen missbraucht, ist für mich einfach fürchterlich. Das macht mich wirklich krank manchmal.

Haben Sie eine Strategie, sich selbst zu schützen?

Wir haben unter anderem unsere kollegiale Supervision. Das ist schon ganz wichtig, dass wir uns austauschen können. Es ist ja auch so, dass es für eine Woche still ist und dann kommen auf einmal drei oder vier Anrufe an einem Tag. Dann merke ich, dass es mir auch wirklich sehr an die Substanz geht.

Wann ist die Belastung besonders groß?

Wenn an einem Freitagabend das nina + nico-Handy klingelt, dann weiß ich, jetzt kommt was. Dann ist es auch oft so, dass sich Kinder, die schon nicht mehr zu Hause wohnen, ihren Eltern anvertrauen und erzählen, dass sie zum Beispiel von einem Familienmitglied über viele Jahre missbraucht worden sind. Die Kinder haben zu Hause immer geschwiegen. Und dann habe ich am Telefon eine Mutter, die vollkommen erschüttert ist, die alles in Frage stellt, sich als schlechte Mutter fühlt. Und wir müssen ganz vorsichtig versuchen, sie wieder aufzubauen. Erklären, dass der Täter dem Kind unter Androhung von Strafe verboten hat, etwas zu erzählen.

Das ein bis dahin als gelungen empfundenes Familienleben dann zusammenbricht, das empfinde ich wirklich jedes Mal als sehr nahegehend. Das trage ich übers Wochenende und bin dann da für diese Familie. Zum Ausgleich schreibe ich schon mal lange Gedichte über das, was mich bewegt. Zwei Gedichtbände sind sogar veröffentlicht worden.

Klingelt seit Beginn der Pandemie das Telefon häufiger?

Am Anfang war es verhältnismäßig still, das berichten auch andere Beratungsstellen. Dann aber haben die Anrufe deutlich zugenommen, etwa dreimal so viel wie vor der Pandemie sind es. Wir haben in unseren Beratungsräumen unter Einhaltung aller Hygieneregeln weiter beraten, denn diese Fälle kann man nicht nur am Telefon begleiten. Da braucht man ein Gegenüber.

Es heißt ja oft, man solle Mädchen stark machen. Gibt es noch einen guten Rat?

Durch die Pandemie gab es zumindest die Anrufe nicht mehr, in denen junge Frauen beschreiben, dass sie nicht wissen, wie sie nach einer Party nach Hause gekommen sind, und dass sie sexuelle Übergriffe erlebt haben, nachdem ihnen jemand K.O.-Tropfen ins Getränk gekippt hat. Das geht jetzt langsam wieder los. Und das ist der Punkt, an dem ich überzeugt bin, dass wir nicht immer alles den Frauen in die Schuhe schieben dürfen.

Den Mädchen wird gesagt: Zieh Dich nicht zu aufreizend an, schmink Dich nicht, trink nicht zu viel Alkohol, achte darauf, dass Du Dein Getränk nicht offen stehen lässt, damit niemand Tropfen hineinschütten kann.

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Aber das sind immer die Ansprachen an die Mädchen. Und umgekehrt wird selten mit den Jungs darüber gesprochen, dass das ein absolutes No-Go ist. Das gibt es nicht. Man macht sich auch nicht mit Freunden über ein Mädchen lustig, das vielleicht nicht dem Schönheitsideal entspricht. Diese Art von Mobbing gehört sich einfach nicht. Es gehört sich nicht, Mädels abzufüllen und gefügig zu machen. Es ist einfach unwürdig.

Wir haben als Eltern die Möglichkeit, auch die Jungs zu sensibilisieren und ihnen zu sagen, dass zu einem anständigen Kerl auch gehört, derartiges Verhalten nicht zu tolerieren und weit von sich zu weisen. Gleiches gilt natürlich auch für Mädchen.

Wünschen sie sich für die Zukunft von nina + nico?

Dass unser Verein irgendwann nicht mehr gebraucht wird, wäre natürlich das Größte. Bis dahin wünsche ich mir mehr Anerkennung für unsere Arbeit, härtere Strafen für die Täter und mehr Rechte für Kinder. Dass die Ratifizierung von mehr Kinderrechten im Grundgesetz gescheitert ist, ist eine Katastrophe.

Denken Sie mit 72 Jahren auch darüber nach, aufzuhören?

Ich habe gesagt, dass ich gerne bereit bin, ein Stück zurückzutreten. Aber ich möchte weiterhin das Notfallhandy haben und auch, so lange ich es kann, dabeibleiben. Denn ich finde es wichtig, in dem Moment wo die Angst bei Kindern oder Frauen groß ist, da zu sein. Egal, ob das an Heiligabend, am Ostermontag oder am Wochenende ist. Und ich hoffe sehr, dass ich noch ein paar Jahre durchhalte.