Initiative gegen MissbrauchMissbrauchsopfer will Gerechtigkeit

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Markus Diegmann vor seinem Wohnmobil, mit ihm will er ab Frühjahr 2017 deutschlandweit auf Tour gehen.

Markus Diegmann vor seinem Wohnmobil, mit ihm will er ab Frühjahr 2017 deutschlandweit auf Tour gehen.

Rhein-Berg – Es sind Bilder, die Markus Diegmann (50) nicht aus dem Kopf gehen. Bilder von einem kleinen blonden Jungen, schüchtern und ängstlich. Er liegt auf dem Bett, neben ihm liegt ein dicker Mann – beide sind nackt. Der Mann vergeht sich an dem Jungen.

„Als ich zum ersten Mal missbraucht wurde, war ich sechs“, erinnert sich Diegmann. Die Großfamilie – Vater, Mutter und viele Geschwister – lebte damals im Raum Wipperfürth. Doch da gab es noch zwei Hausbewohner. Beide Männer hätten ihn immer wieder missbraucht, berichtet Diegmann. „Neun Jahre lang war es die Hölle“, schildert der große hagere Mann.

Diegmanns Missbrauch blieb lange unentdeckt

Die Mutter, die als Krankenschwester im Schichtdienst arbeitete, habe von dem Missbrauch nichts mitbekommen. Denn das Kinderzimmer lag im Dachgeschoss, die Eltern aber wohnten im Erdgeschoss. „Aus Angst habe ich mir als Kind immer wieder in die Hose gemacht“, erinnert sich der 50-Jährige.

Sein Vater habe ihn dann verprügelt und ihn gezwungen, sich auszuziehen und die Unterwäsche von Hand zu waschen – auch, wenn Besuch da war. Die Schmerzen und die Demütigungen – Markus Diegmann kann sie auch nach 40 Jahren nicht vergessen. „Wegen Rebellentums“ sei er in der achten Klasse von der Wipperfürther Hauptschule geflogen, erzählt Diegmann.

Mit 18 Jahren heiratet er, lässt sich erst zum Straßenbauer, dann zur Fachkraft für Konstruktion am Computer (CAD) ausbilden. Mit 22 Jahren wird er jüngster Berufsschullehrer in Köln, wo er CAD unterrichtet. 1991 kommt Sohn Phil zur Welt.

Diegmann macht Karriere: Der begeisterte Drachenflieger arbeitet als Marketingleiter, gründet seine eigene Firma und geht in die USA. 15-Stunden-Arbeitstage sind die Regel. Ein Leben hart an der Kante. „Ich war immer auf der Flucht vor mir selbst“, sagt er im Rückblick.

Doch dann – am 31. März 2013 – kommt der Zusammenbruch. Die Bilder des Missbrauchs schießen durch den Kopf, – „wie eine vergrabene Bombe“ – und der sonst so starke Mann ist plötzlich nur noch ein Häufchen Elend.

„Chronisch komplexes Trauma“ nennen es die Mediziner – eine schwere psychische Erkrankung, die gerade bei Missbrauchsopfern nicht selten ist. Auch körperlich baut der gebürtige Wipperfürther stark ab, er verliert über zehn Kilo Gewicht, leidet unter chronischen Schmerzen.

“Fonds Sexueller Missbrauch„ hilft Missbrauchsopfern

Der Fonds Sexueller Missbrauch, eine Einrichtung des Bundesfamilienministeriums, erkennt ihn als Opfer an, nachdem zwei seiner Brüder übereinstimmend berichten, auch sie seien von den beiden Mitbewohnern belästigt worden.

Im Gegensatz zu ihrem jüngeren Bruder aber konnten sie sich wehren. Mit der finanziellen Unterstützung des Fonds erhält Markus Diegmann einen Therapieplatz in einer Privatklinik in Dresden. Doch vier Wochen Aufenthalt sind viel zu kurz.

Weil der Verlängerungsbescheid zu spät kommt, muss er die Therapie überstürzt abbrechen. „Ich hatte mein Innerstes nach außen gekehrt, und dann war ich wieder allein. Es war entsetzlich“, sagt der 50-Jährige.

Mit 50 noch in Therapie wegen Misshandlungen in der Kindheit

Diegmann ist weiter in ambulanter therapeutischer Behandlung, bräuchte aber eine stationäre Betreuung.

Doch für Kassenpatienten mit chronisch komplexem Trauma gebe es kaum Therapieplätze, beklagt er. Privatkliniken wiederum kosten viel Geld, und das hat der 50-Jährige nicht mehr. „Meine Ersparnisse sind aufgebraucht“, sagt er. Und so hat Diegmann seine Wohnung gekündigt und lebt jetzt in einem Wohnmobil, ein Auto, das schon von weitem auffällt.

Ein befreundeter Schildermaler hat den weißen Wagen mit fetten Zeitungsschlagzeilen zu Missbrauchsfällen bemalt. Mit diesem Wagen will der 50-Jährige im kommenden Jahr auf Tour durch Deutschland gehen und dabei für sein Anliegen werben: Sexueller Missbrauch soll nicht länger nach maximal 30 Jahren verjähren. Dafür will er im Internet eine Million Unterschriften sammeln.

Denn die beiden Männer, die Markus Diegmann die Kindheit geraubt und sein Leben zerstört haben, sind bis heute auf freiem Fuß.

Bis zu 300.000 Fälle pro Jahr

Amtliche Statistiken wie die Polizeiliche Kriminalstatistik führen jährlich rund 14 000 Fälle von Kindern und Jugendlichen bis 14 Jahre auf, die in Deutschland sexuell missbraucht werden. Das sind allerdings lediglich die Fälle, die zur Anzeige gebracht werden. Dazu kommt eine hohe Dunkelziffer. Experten gehen davon aus, dass nur jeder 15. bis 20. Fall von Kindesmissbrauch angezeigt wird. Die wirkliche Zahl liegt danach zwischen 200 000 und 300 000 Missbrauchsfällen pro Jahr in Deutschland.

Missbrauch an Kindern wird strafrechtlich verfolgt, daneben können die Betroffenen zivilrechtlich auf Schmerzensgeld und Schadenersatz klagen. Die Verjährungsfristen wurden mehrfach verändert. Im Zivilrecht beträgt sie 30 Jahre, im Strafrecht, je nach Schwere der Straftat, zwischen fünf und 30 Jahren. Wichtig ist auch, wann die Tat begangen wurde und welche Verjährungsfristen zum Tatzeitpunkt galten.

Im Gegensatz zu anderen Straftaten beginnt die Verjährung bei Missbrauch von Kindern und Jugendlichen nicht mit dem Ende der Tat, sondern ruht bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres des Opfers.

Viele Hilfsorganisationen bieten Opfern von Missbrauch Rat und Unterstützung an. Dazu zählen etwa der Verein „Zartbitter“ in Köln, Telefon 02 21/31 20 55 und die Psychologische Beratungsstelle Herbstmühle in Wipperfürth, Telefon 0 2267/30 34.

www.zartbitter.de

www.beratung-in-wipperfuerth.de

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