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„Es fehlen 1000“Dramatischer Personalmangel in Gastro und Einzelhandel in Rhein-Erft

Lesezeit 4 Minuten
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Als „eine Katastrophe“ bezeichnet Andreas Neuhaus, Inhaber vom Schuhaus Winterscheid und Unternehmer, die Personalsuche.

Brühl/Rhein-Erft-Kreis – „1000, es fehlen 1000.“ Mit ernster Miene spricht Gregor Frey, Brühler Hotelier und Gastronom, von einem Problem, das seine Branche auch im Rhein-Erft-Kreis aktuell verzweifeln lässt – dem Personalmangel. Rund 1000 Fachkräfte suche die Gastronomie derzeit, erläutert der Vorsitzende des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands (Dehoga) im Rhein-Erft-Kreis.

Die Konsequenzen für seine Kollegen seien schwerwiegend: „Manche decken die Terrasse nur halb ein, öffnen einen Tag weniger die Woche oder holen ihre berenteten Angestellten zurück. Einer beschäftigt hier in Brühl seinen 75-jährigen Koch weiter, weil es einfach keinen Nachfolger gibt.“

Dabei werde in der Branche inzwischen weit über Mindestlohn gezahlt. „Im Service gibt es 14 bis 20 Euro Stundenlohn, für ein Zimmermädchen 15 Euro am Wochenende, Auszubildende bekommen ab 1000 Euro im ersten Lehrjahr. Aber man findet dennoch niemanden.“

Rhein-Erft-Kreis: Viele Mitarbeiter sind abgewandert

Viele Mitarbeiter seien während der Corona-Lockdowns in andere Wirtschaftszweige abgewandert wie etwa in den Onlinehandel. Das Nachwuchsproblem führe dazu, dass Gastwirte ihre Betriebe Jahre früher als geplant aufgäben: „Wer kauft gerade schon eine Gastronomie?“

Frey führt deutlich mehr persönliche Gespräche, vermittelt im Netzwerk und gibt Tipps. Er selbst sucht gerade nicht, da er seine Mitarbeiter in Kurzarbeit halten konnte und einen besonderen Weg einschlug: Mehr als die Hälfte seiner 14 Mitarbeiter kommt aus dem Ausland. Im Dezember und im Februar konnte er mithilfe einer Stellenanzeige über die Agentur für Arbeit zwei Auszubildende aus Marokko und Tadschikistan finden.

Brühl: Fachkräftemangel als Schwerpunkt

Markus Jouaux, Fachbereichsleiter der Brühler Wirtschaftsförderung, kennt das Problem. „Der Fachkräftemangel ist mittlerweile in allen Branchen angekommen, auch bei Banken und Versicherungen. Das höre ich auch von den Kollegen in anderen Kommunen.“ Für den nächsten Wirtschaftstreff am 20. Oktober habe man daher das Thema „Fachkräftemangel“ als Schwerpunkt gewählt. Dennoch ist der Wirtschaftsförderer mit der Situation in Brühl zufrieden: „Wir können uns nicht beklagen, wir haben immer noch extrem wenig Leerstand in der Innenstadt und finden meistens hochwertige Nachfolger.“ Er beziffert den Leerstand in der Innenstadt auf unter drei Prozent, einige Kollegen in der Umgebung müssten mit dem zehnfachen Wert agieren.

Von Zufriedenheit ist bei Unternehmer Andreas Neuhaus nichts zu spüren. „Es ist eine Katastrophe und sehr, sehr schwierig. Es macht keinen Spaß mehr!“, sagt er. Seit 32 Jahren ist er im Schuhgroßhandel tätig, seit 13 Jahren zudem Inhaber des Brühler Schuhgeschäftes Winterscheid. Seit gut einer Woche hänge ein Schild mit Stellenangeboten im Schaufenster, berichtet er, gemeldet habe sich bislang niemand. „Früher war so ein Aushang im Fenster, zwei Tage später war die Position besetzt“, so Neuhaus.

Brühler Geschäftsmann beklagt Mentalitätswechsel

Auch mit seinen Großhandelskunden in ganz Deutschland führe er oft Gespräche über den Personalmangel, im Freundeskreis würden überall Mitarbeiter gesucht. „Die Politik hier ist ein großes Chaos, es fehlt dort an Erfahrung und Durchsetzungsvermögen“, beklagt er. Zudem gäbe es einen Mentalitätswechsel, die meisten wollten nur noch vier Tage in der Woche arbeiten – am liebsten zum gleichen Gehalt. „Das Übel sitzt in Berlin, niemand dort ist in der Lage, zu reagieren“, lautet seine Diagnose.

Rainer Imkamp, Vorsitzender der Geschäftsführung der Agentur der Arbeit, hofft, dass sich die starke Nachfrage nach Personal auf dem Arbeitsmarkt weiter positiv bemerkbar macht: „ Mit den ersten Sonnenstrahlen nimmt üblicherweise auch die Beschäftigung, beispielsweise in der Gastronomie und den Außenberufen, wieder Fahrt auf. Diese Frühjahrsbelebung wird sich wahrscheinlich bis zu den Sommerferien fortsetzen.“

Bedarf an Fachkräften im Rhein-Erft-Kreis hoch

Er analysiert auch, dass der Bedarf an Fachkräften im Rhein-Erft-Kreis hoch sei: „Die Chancen für Arbeitslose mit einer guten Qualifikation sind besser denn je.“ Weniger zuversichtlich ist Imkamp für eine andere Gruppe: „Mehr als die Hälfte aller Arbeitslosen hat keinen Berufsabschluss. Die beste Versicherung, einen Arbeitsplatz zu bekommen, sind berufliche Kenntnisse.“

Eine gute Ausbildung vermisst auch Flor Farhadi, Inhaberin des Friseursalons Flor & Co am Brühler Steinweg, und die Lust am Arbeiten: „Von 15 Bewerbungen kommen nur ein bis zwei in Frage, das war früher anders.“ Drei Vollzeitstellen und einen Ausbildungsplatz hat die Unternehmerin aktuell zu vergeben: „Wir suchen schon lange und stetig Personal.“

Experte: Unternehmen werden nicht fündig

Jörg Hamel, Sprecher des Einzelhandelsverbands Aachen/Düren/Köln, setzt auf ein Programm mit Fortbildungen und Stipendien, das vorhandene Mitarbeiter halten und Quereinsteiger für den Einzelhandel begeistern soll. „Die Situation ist dramatisch, die Leute haben im Lockdown gemerkt, dass sie auch woanders arbeiten können und dabei noch samstags frei haben“, erklärt er.

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Viele Unternehmen, gerade größere, suchten seit Monaten Personal und würden nicht fündig. „Die Leute sind weg. Ein Händler musste neulich für zwei Wochen schließen, weil kein Mitarbeiter da war.“ Auch in den Berufsschulen sehe es für den Einzelhandel „düster“ aus: „Andere, neue Berufsbilder sind für die Jugendlichen attraktiver“, glaubt Hamel.

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