Eine Klinik in Hürth und eine Beratungsstelle in Erftstadt verzeichnen mehr Fälle seit der Corona-Pandemie.
Junge Frauen betroffenMehr stationäre Behandlungen bei Essstörungen auch in Rhein-Erft

Immer mehr junge Frauen werden wegen Essstörungen im Krankenhaus behandelt, auch im Rhein-Erft-Kreis.
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Wenn die Gedanken von früh bis spät um Kalorienanzahlen kreisen, der Weg ins Fitnessstudio zum Zwang wird und das Thema Essen zur Qual: Immer mehr Mädchen und junge Frauen werden wegen Essstörungen stationär im Krankenhaus behandelt, wie die neusten Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen. So hat sich die Zahl von 2003 zu 2023 verdoppelt, von 3000 auf 6000 Behandlungen.
Insgesamt hat sich die Zahl der Behandlungen wegen Essstörungen laut Statistischem Bundesamt langfristig wenig verändert. 2023 wurden es rund 12.100 Patientinnen und Patienten stationär behandelt, 2003 waren es 12.600. Im Vor-Corona-Jahr 2019 wurden mit rund 10.600 Fällen jedoch deutlich weniger Patienten mit Essstörungen im Krankenhaus behandelt.
Neben der Corona-Pandemie kursieren außerdem in den sozialen Medien wie auf der App TikTok gefährliche Trends wie „Skinny Tok“, die den Schlankheitswahn junger Frauen und Mädchen zu befeuern scheinen.
Hürth: Klinik verzeichnet deutlichen Anstieg innerhalb des ersten Pandemie-Jahres
Diese Entwicklung lässt sich auch im Rhein-Erft-Kreis beobachten. Die Oberberg Fachklinik Konraderhof in Hürth ist spezialisiert auf Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik. Wie Chefärztin Dr. Clara Heidkamp und Dr. Reinhild Schwarte, Leiterin des Bereichs Essstörung, mitteilen, sei ein Anstieg der stationären Behandlungen wegen Essstörungen von Mädchen und jungen Frauen auf jeden Fall beobachtbar. In den vergangenen 8,5 Jahren habe die Klinik knapp 270 Fälle stationär und teilstationär wegen Essstörung behandelt.
Die Expertinnen verzeichnen einen „deutlichen Anstieg der jüngeren Patientinnen („kindliche Anorexie“) auf der Kinderstation (bis 13 Jahre), vor allem während und seit der Corona-Pandemie“. Von 2017 bis 2021/2022, sozusagen zur Corona-Pandemie, hätten sich die Fallzahlen verdoppelt, zudem habe es einen sehr deutlichen und rapiden Anstieg der Fallzahlen innerhalb des ersten Pandemie-Jahres gegeben.
Fachklinik Hürth: Ursachen von Essstörungen haben sich geändert
Neben den gestiegenen Fallzahlen hätten sich die Ursachen in den vergangenen Jahren geändert. Vermehrter Sport scheint dabei eine nicht unwichtige Rolle. Während Patienten zuvor zum Erkrankungsbeginn einer Magersucht meist ausschließlich stark eingeschränkt aßen und der Bewegungsdrang später hinzukam, beginnen heute beide Verhaltensweisen zeitgleich oder der exzessive Sport sogar zuerst, wie die Expertinnen erläutern.
Dabei handelt es sich laut Heidkamp und Schwarte schon um ein Phänomen der Corona-Pandemie und der Lockdowns, zudem durch die sozialen Medien ausgelöst. Patienten berichteten etwa über Kontrollverlusterleben und Gewichtszunahmen in den Lockdowns. Darüber hinaus hätten zum Beispiel häufig Sport-Apps und sportliche Herausforderungen - insbesondere im zweiten Lockdown sehr beliebt - zu einem ungesunden Umgang mit Bewegung, Essen und Körper geführt.
Auch das selektive, also sehr ausgewählte Essen habe andere Ausmaße angenommen, laut Heidkamp und Schwarte sicher auch durch die sozialen Medien ausgelöst. Ein weiteres Problem, auf das die Expertinnen aufmerksam machen: Bei Erwachsenen habe sich ebenfalls das Bild von „gesundem Gewicht und Körper“ verändert. Die Expertinnen sprechen sich daher für einen bewussteren Umgang mit Bildern und den sozialen Medien bei Erwachsenen aus, als Vorbild und Ansprechpartner für ihre Kinder.
Erftstadt: Caritas-Beratungsstelle verzeichnet mehr Essstörungen seit der Pandemie
Dr. Britta Schmitz ist Diplom-Psychologin und Leiterin der Caritas Erziehungs- und Familienberatungsstelle Erftstadt an der Schloßstraße 1a in Lechenich. In den Jahren seit der Corona-Pandemie beobachtet auch die Beratungsstelle vermehrt Fälle von Essstörungen, vornehmlich Anorexia nervosa (Magersucht), Bulimie (Ess-Brech-Sucht) und Orthorexie, eine zwanghaft gesunde Ernährung. Bei Orthorexie achten die Betroffenen laut der Expertin extrem darauf, was sie essen. „In einem Ausmaß, dass es zur Belastung wird“, erläutert die Leiterin der Beratungsstelle.
Für Jugendliche gab es während der Corona-Pandemie viele Unsicherheiten. Essen ist etwas, was sie kontrollieren können
Eine Ursache ist laut Schmitz etwa ein Bedürfnis nach Kontrolle: „Für Jugendliche gab es während der Corona-Pandemie viele Unsicherheiten. Essen ist etwas, was sie kontrollieren können.“ Neben Essstörungen gibt es laut der Diplom-Psychologin auch eine Zunahme von depressiven Symptomen, Angststörungen oder Suizid-Gedanken bei Jugendlichen.
Essstörungen, ausgelöst durch die sozialen Medien, scheinen jedoch nicht nur Mädchen und junge Frauen zu betreffen. So habe die Oberberg Fachklinik Konraderhof für Kinder und Jugendliche in Hürth gerade in den vergangenen Wochen mehrere Anfragen für dringende stationäre Aufnahmen von Jungen erhalten.
Chefärztin Dr. Clara Heidkamp und Dr. Reinhild Schwarte sei es jedoch wichtig, die sozialen Medien nicht nur zu verteufeln. Dort gebe es auch viele Hilfsangebote, in Gruppentherapien für Essstörungspatienten in der Klinik „zeigt sich häufig, wie reflektiert die Jugendlichen über ihre eigene Nutzung sind“. So löschten danach viele TikTok selbst.
14- bis 17-Jährige von psychischen Erkrankungen betroffen
Im AOK-Kindergesundheitsatlas für das Rheinland und Hamburg 2024 sind Ergebnisse einer Befragung von Eltern mit Kindern im Alter von 0 bis 17 Jahren festgehalten. In der Studie zum Kindergesundheitsatlas wurden die Eltern zusammengefasst zu „Psychischen Erkrankungen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“, befragt, darunter neben Angststörungen, Depressionen und Störungen des Sozialverhaltens auch Essstörungen.
Aussagen befragter Eltern zufolge haben fünf Prozent der Null- bis 17-Jährigen diagnostizierte psychische Erkrankungen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, bei weiteren sieben Prozent wird eine Erkrankung vermutet. Im Vergleich zu den weiteren abgefragten Erkrankungen tritt diese mit am häufigsten auf, heißt es. „Demnach besteht bei circa jedem achten Kind oder Jugendlichen mindestens die Vermutung, an einer psychischen Erkrankung, Persönlichkeits- oder Verhaltensstörung erkrankt zu sein.“
Besonders häufig sind vor allem 14- bis 17-Jährige von psychischen Erkrankungen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen betroffen. „Der Anteil an Diagnosen bei 14- bis 17-Jährigen ist mit 10 Prozent am höchsten.“ Wenn laut Elternangaben eine Diagnose oder Vermutung vorliegt, berichten sie „sehr oft von starken Belastungen für sich selbst und für ihr Kind“. (eva)
Essstörungen: 50 Prozent mehr Fälle seit dem Vor-Corona-Jahr
Auch Daten der KKH Kaufmännischen Krankenkassen zufolge haben die Fälle von Magersucht, Bulimie und Binge-Eating (krankhafte Essanfälle) bei 12- bis 17-jährigen Mädchen besonders stark zugenommen. Laut der Krankenkasse vom Vor-Corona-Jahr 2019 bis 2023 von 101 Fällen auf 150 Fälle pro 10.000 Versicherte. Das entspreche einem Plus von fast 50 Prozent.
In keiner anderen Alters- und Geschlechtergruppe sei der Anstieg innerhalb dieser Zeit derart groß, heißt es. Als Grund macht die Krankenkasse vor allem die Selbstoptimierungsszene in den sozialen Medien wie auf TikTok aus. „Solche fragwürdigen Ideale können vor allem bei Heranwachsenden zu einem verminderten Selbstwertgefühl und in der Folge zu psychischen Erkrankungen wie Essstörungen führen.“ (eva)