Demografin Olga Pötzsch vom Statistischen Bundesamt über den Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge, Vorwürfe gegen ihre Generation und warum sie optimistisch in die Zukunft blickt
Demografin„Ich glaube, dass in den Babyboomern große Potenziale stecken“

Die fitteste Rentnergeneration aller Zeiten? Die Boomer gehen der Rente entgegen.
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Olga Pötzsch hat einen wichtigen Job: Sie schaut in die Zukunft. Nein, sie betreibt keine Hellseherei – im Statistischen Bundesamt in Wiesbaden stellt sie für die Politik sogenannte Bevölkerungsvorausberechnungen an. Zuletzt hat sie sich dafür mit ihrer eigenen Generation beschäftigt: mit den Boomern und deren bevorstehenden Renteneintritt. Im Interview mit Karsten Krogmann erklärt Pötzsch, was sie optimistisch stimmt.
Frau Pötzsch, nach langen Diskussionen in der Redaktion kann ich jetzt endlich eine echte Boomer-Expertin fragen: Bin ich ein Boomer?
Wann sind Sie geboren?
Am 20. Dezember 1968.
Dann sind Sie ein Boomer, gerade so. Es gibt da unterschiedliche Ansätze, aber aus meiner Sicht als Demografin steckt die Definition schon im Begriff „Babyboomer“. Wir haben für unsere Untersuchung die geburtenstärksten Jahrgänge eingerechnet, in denen 1,2 Millionen oder mehr Kinder geboren wurden – das sind die Jahrgänge von 1957 bis einschließlich 1968.
Meine Klassenkameraden, die im Januar 1969 geboren wurden, sind keine Boomer?
Wenn Sie statistisch verwertbare Aussagen treffen wollen, dann müssen Sie eine Grenze ziehen.
Hm, ich glaube, lieber wäre ich kein Boomer. Eine junge Kollegin bat neulich nach einem Computerfehler um Entschuldigung mit den Worten „Sorry, ich bin ein Boomer“, ein Kollege verwarf eine Idee von mir als „boomerig“. Was ist so schlimm an uns Boomern?
(lacht) Ich habe vor unserem Gespräch meine Tochter gefragt, was ihr zu den Boomern einfällt. Sie sagte: Das ist die letzte Generation, die sich noch Wohneigentum leisten konnte. Es ist interessant, was andere Generationen mit diesem Begriff verbinden. Vor allem in Verbindung mit den sozialen Sicherungssystemen weckt „Boomer“ bei vielen Menschen negative Assoziationen.
Jüngere Menschen hören und lesen ständig: Wenn die Boomer demnächst in Rente gehen, dann müsst ihr die Lücke auf dem Arbeitsmarkt stopfen und für die Renten und Pflegekosten der Boomer aufkommen.
In den 60er-Jahren hatten wir den Gipfel des Babybooms, danach sind die Geburtenzahlen abgestürzt – dass es diese demografische Welle gibt, ist der Politik seit Mitte der 80er-Jahre bekannt. Ebenso, dass diese Welle schwer mit den bestehenden sozialen Sicherungssystemen zu bewältigen ist. Diese Welle rollt nun unaufhaltsam. Das kann man nicht den Babyboomern anlasten.
Vielleicht doch, denn ein weiterer Vorwurf an die Babyboomer lautet: Sie haben selbst zu wenige Kinder bekommen, um die Welle abzuschwächen.
Das ist so nicht ganz richtig. Der Geburtenrückgang fängt ja schon Ende der 60er-Jahre an. Da waren die meisten Boomer noch im Vorschulalter.
Haben die Boomer selbst später kinderreiche oder kinderarme Familien gegründet?
Die Boomer sind vermutlich die letzte Generation, die in sehr traditionelle Familienformen hineingeboren wurde. Und sie sind die Generation, die den sogenannten zweiten demografischen Übergang mitgestaltet hat. Die Frauen der Babyboomer-Generation haben die Bildungsexpansion erlebt, sich mehr beruflich engagiert, sich stärker vom althergebrachten Rollenbild emanzipiert. Aber die gesellschaftlichen Verhältnisse waren so, dass diese Frauen viel größere Schwierigkeiten hatten, sich beruflich zu verwirklichen und zeitgleich Kinder zu bekommen. Insbesondere in Westdeutschland hatten wir deshalb diese Zweiteilung. Einerseits Frauen, die sich für die traditionelle Familie entschieden haben und Kinder hatten, meistens mehrere – andererseits Frauen, oft sehr gut ausgebildet, die keine Familie gegründet haben.
Was heißt das in Zahlen?
Ihre Jahrgänge, 1968 und 1969, hatten in Westdeutschland mit 23 Prozent der Frauen die höchste Kinderlosenquote nach dem Zweiten Weltkrieg. Danach hat sich die Quote leicht erholt.
Was verbinden Sie persönlich mit dem Begriff „Boomer“?
Für mich ist das die Generation, die den Transformationsprozess nach der deutschen Wiedervereinigung erlebt hat. Viele der Babyboomer wurden dadurch stark in ihrem Leben beeinflusst: in ihrer Erwerbsbiografie, in ihrer Familienbiografie, in der Lebenseinstellung. Es ist die Generation, die sich – vor allem im Osten – am stärksten umstellen musste. Es ist eine sehr gut ausgebildete Generation. Die im reiferen Alter bewusster und gesünder lebt als andere Generationen vor ihr. Die eine positive Einstellung zum Leben hat, geprägt vom humanistischen Ideal, und die nun hadert mit dem Geschehen in der Welt.
Danke, Frau Pötzsch, jetzt bin ich schon wieder ein bisschen lieber Boomer. Wie sehr hat die schiere Größe der Generation uns geprägt?
„Wir waren eigentlich immer zu viele“, sagt der Soziologe und Boomer Heinz Bude. Ja, die Boomer haben zunächst die Kindergärten und Bildungseinrichtungen überflutet und mussten sich dann auf dem Arbeitsmarkt bei harter Konkurrenz behaupten, teilweise bei Arbeitslosenquoten von zehn Prozent. Aber ich weiß nicht, ob das wirklich das Prägende war für die Generation. Ich glaube auch nicht, dass diese Erfahrung zu einer Ellbogengesellschaft geführt hat.
Heute sagt man den Boomern genau das nach: Sie sollen zulasten nachfolgender Generationen ein Leben in Saus und Braus geführt haben, mit sicheren Jobs und günstigen Immobilien. Was ist da dran?
Ich denke, da wird einiges durcheinandergebracht. Wir sprachen über die hohe Arbeitslosigkeit, Unsicherheiten, Transformation – die Babyboomer sind eine Generation, die sich zurechtfinden, schnell umorientieren und den Jobs hinterherfahren musste. Sie musste flexibel sein. Die Lebensumstände und finanziellen Voraussetzungen waren auch innerhalb dieser Generation ganz unterschiedlich. Zumindest in Ostdeutschland hatten die Babyboomer viel seltener Kapital: Wenn sich die Menschen etwas Größeres gekauft haben wie Immobilien, dann auf Kredit, der aus laufendem Einkommen abbezahlt wurde.
Wie schwarz müssen wir in die Zukunft sehen, weil die Boomer in Rente gehen?
Schwarzsehen kann man vielleicht wegen Atomwaffentests oder Klimawandel, das beunruhigt mich mehr als die demografische Entwicklung. Wenn alles friedlich bleibt, dann finden sich Möglichkeiten, damit umzugehen. Ein Beispiel, weil wir vorhin über Kinderlosigkeit bei den Boomern sprachen: Wenn die Babyboomer über 80 werden, dann steigt statistisch die Pflegebedürftigkeit. Wer wird sie pflegen? Heute werden Pflegebedürftige größtenteils zu Hause von ihren Angehörigen versorgt. Auf solche Fragen muss sich eine Gesellschaft vorbereiten, dafür machen wir unsere Vorausberechnungen. Aber: Wir dürfen nicht die Pflegequote von heute 20 oder 30 Jahre in die Zukunft übertragen. Die Babyboomer sind eine andere Generation, die bewusster und gesünder lebt, was ihre Pflegebedürftigkeit möglicherweise herauszögert.
Frau Pötzsch, Sie sind offenbar ein optimistischer Mensch, das ist schön.
Das ist nicht nur Optimismus, das ist auch berufliche Erfahrung, die zeigt, dass sich Gesellschaften an demografische Veränderungen anpassen. Wir haben die Digitalisierung, wir haben neue Technologien, wir haben eine große, solidarische Generation. Wir müssen abwarten, was da alles kommt.
Mit den Babyboomern geht die bislang gebildetste, fitteste und aktivste Generation in Rente – strömen da vielleicht bald Tausende tatkräftige Ruheständler in Ehrenämter und Aktivrentenjobs?
(Lacht) Ich setze große Hoffnung in die Boomer-Artikel Ihrer Zeitung! Wenn diese Generation nicht nur negativ dargestellt wird und verbittert altert, dann sehen wir vielleicht gesunde und bewusst lebende Menschen, die nach sinnvoller Freizeitgestaltung suchen. Die Dienstleistungen austauschen, die sich gegenseitig Nachbarschaftshilfe leisten, die offen sind für generationsübergreifende Initiativen. Ich glaube, dass in den Babyboomern große Potenziale für unsere Gesellschaft stecken.

