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„Hier liegen hunderte Leichen“Erdbeben in der Türkei – war die Katastrophe vorhersehbar?

Lesezeit 5 Minuten
07.02.2023, Türkei, Adana: Mitglieder eines Rettungsteams tragen den Körper einer Person, die in den Trümmern eines zerstörten Gebäudes gefunden wurde. Rettungskräfte suchen weiterhin nach Überlebenden in den Trümmern tausender Gebäude, die durch ein starkes Erdbeben und mehrere Nachbeben, die die Osttürkei und das benachbarte Syrien erschütterten, eingestürzt waren.

Türkei, Adana: Mitglieder eines Rettungsteams tragen den Körper einer Person, die in den Trümmern eines zerstörten Gebäudes gefunden wurde.

Leichen auf den Straßen, Hilfeschreie aus Trümmerbergen, Obdachlose im Schnee, Plünderungen: Die Lage im Südosten der Türkei ist weiterhin katastrophal. Geologen warnten schon länger vor der Gefahr.

In Teilen des Erdbebengebietes im Südosten der Türkei bietet sich nach der Katastrophe ein apokalyptisches Bild. Viele Opfer des Unglücks warteten am Dienstag noch darauf, aus zerstörten Häusern befreit zu werden, Lokalpolitiker riefen verzweifelt nach Hilfe. „Wir brauchen Bergungsteams“, forderte Lütfü Savas, Bürgermeister von Antakya, der Hauptstadt der Provinz Hatay an der syrischen Grenze. Außerdem drohe vielen Menschen der Tod durch Unterkühlung, mahnte Savas im Fernsehen. So weit hätte es nicht kommen müssen, sagen türkische Erdbebenforscher. Sie warnten seit Jahren vor einem schweren Erdbeben in Region, wurden aber ignoriert. Jetzt wächst die Kritik an der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Plünderungen in Lebensmittelläden

„Hier liegen hunderte Leichen, und tausende Überlebende sitzen im Regen“, berichtete Firat Yayla, ein junger Mann aus Hatay, der sich aus den Trümmern eines zusammengestürzten Hauses befreien konnte, seine Mutter aber dort zurücklassen musste. In der Stadt Malatya, die zu den am schwersten betroffenen Orten gehört, plünderten hungrige Erdbebenopfer die Lebensmittelläden in halbzerstörten Gebäuden, wie die Nachrichtenseite Duvar meldete. In der Kleinstadt Afsin, rund 40 Kilometer nördlich der Stadt Kahramanmaras, des Epizentrums des ersten Bebens vom Montag, mussten Überlebende Schnee schmelzen, weil es kein Trinkwasser gab.

In Kahramanmaras warf sich eine Frau in rosa Mantel und Kopftuch vor ein Rettungsfahrzeug, um es aufzuhalten: „Wir warten schon so lange auf Hilfe“, schrie sie, wie Bilder der Nachrichtenplattform T24 zeigten. „Warum kommt ihr nicht zu uns? Ihr bringt die Leute um, die noch nicht tot sind.“ Die Familie der Frau werde unter den Trümmern eines Hauses vermisst, meldete T24.

Allein in Hatay wurden etwa 1200 Gebäude zerstört, und die Rettungsarbeiten kamen dort nur langsam voran. Obdachlose übernachteten in Autos, bevor sie am Morgen die Suche nach Verschütteten fortsetzten. Bürgermeister Savas sagte, alle Räumfahrzeuge der Stadtverwaltung seien im Einsatz, aber: „Das ist nichts, was wir als Stadt stemmen können.“

Das ganze Ausmaß ist noch längst nicht erfasst

Von 3549 Todesopfern berichteten die türkischen Behörden bis zum Dienstagnachmittag; von der syrischen Seite der Grenze wurden mindestens 1600 Tote gemeldet. Internationale Organisationen schätzen, dass das ganze Ausmaß des Unglücks noch längst nicht erfasst worden ist. Aus Teilen beider Länder gebe es immer noch keine Informationen über Opfer und Schäden, sagte der Chef der Weltgesundheitsorganisation WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, am Dienstag in Genf. Die Suche nach Überlebenden sei „ein Wettlauf gegen die Zeit“. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef erklärte, das Beben habe möglicherweise tausende Kinder in der Türkei und in Syrien getötet.

Der Geologe Naci Görür brach in Tränen aus, als er von dem Erdbeben hörte. Er habe lange geweint, sagte der 76-jährige dem türkischen Sender Fox-TV – nicht nur um die Toten, sondern weil das Unglück viel weniger Menschen das Leben gekostet hätte, wenn der Staat richtig vorbereitet gewesen wäre. Es sei absehbar gewesen, dass die Gegend um Kahramanmaras in höchster Gefahr sei: „Jeder vernünftige Geologe in der Türkei, jeder Geophysiker hat das gewusst und gewarnt.“

Geologen warnten schon länger vor der Gefahr

Görür ist ein Rufer in der Wüste. Seit drei Jahren warnte er auf der Grundlage von Daten früherer Erdbeben, dass der nächste schwere Schlag Kahramanmaras treffen werde. Zuletzt hatte er drei Tage vor dem Unglück seine Warnung wiederholt. Doch die Behörden ignorierten ihn. „Ich habe mir den Mund fusselig geredet“, um regionale Behörden und die Regierung in Ankara zu warnen, sagte der Wissenschaftler. Doch die Mühe war vergebens. „Nie hat jemand auch nur gefragt, was passieren kann und was man dagegen unternehmen kann – nichts.“

Warum hat niemand reagiert? Görürs Kollege Celal Sengör sieht ein ideologisches Problem hinter der Untätigkeit. „Um der Erdbebengefahr zu begegnen, muss man verstehen, womit man es zu tun hat“, sagte Sengör im Fernsehsender Habertürk. Die naturwissenschaftliche Ausbildung müsse in der Grundschule beginnen, doch die Regierung habe Erdkunde zugunsten von mehr Religion aus dem Lehrplan gestrichen – „ein Verbrechen“. Der prominente Erdbebenforscher stand voriges Jahr vor Gericht, weil er in einer Fernseh-Talkshow gesagt hatte, den biblischen Stammvater Abraham habe es in Wirklichkeit nicht gegeben.

Auch in Istanbul droht ein schweres Beben

An sich sei es nicht schwer, Straßen und Häuser erdbebengerecht zu bauen oder nachzurüsten, sagen Experten. Bei seinem eigenen Haus habe das nur ein bis zwei Tage gedauert, sagt Sengör. Für die Metropole Istanbul mit ihren 16 Millionen Menschen erwartet der Wissenschaftler in näherer Zukunft ein Beben der Stärke von 7,7. „Wir müssen vorbereitet sein.“

Doch der Staat unternehme nichts, kritisiert Habertürk-Moderator Fatih Altayli. Nach der Katastrophe von Kahramanmaras werde nun von den Politikern sicher wieder zu hören sein, dass alles Nötige unternommen werde. Dabei stürzten bei dem Beben sogar staatliche Gebäude wie Krankenhäuser und Rathäuser in sich zusammen, der Flughafen in Hatay ist wegen Erdbebenschäden nicht benutzbar. Der Vorsitzende der türkischen Bauingenieurs-Kammer, Taner Yüzgec, warf der Regierung im Interview mit T24 vor, sie habe bei öffentlichen Gebäuden nicht die vorgeschriebenen Erdbebenverstärkungen veranlasst. Ohne sie hätten die Gebäude abgerissen und neu gebaut werden müssen, aber auch das sei nicht geschehen.

Erdogans Regierung bestreitet die Versäumnisse. Das einzige Problem seien die Falschinformationen in den sozialen Medien, sagte Finanzminister Nureddin Nebati bei einem Besuch im Unglücksgebiet. Weil das offensichtlich nicht stimmt, wächst der Unmut über die Regierung. „Man hat uns im Stich gelassen“, sagte der Oppositionspolitiker Baris Atay, der die Provinz Hatay für die Linkspartei TIP im türkischen Parlament vertritt.

Die Katastrophe dürfte nun auch zum Wahlkampfthema werden. Am Dienstag besuchte Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, der bei der Präsidentschaftswahl am 14. Mai gegen Erdogan antreten will, das Erdbebengebiet. Bisher blockt Erdogan die wachsende Kritik an Mängeln bei den Rettungsarbeiten mit dem Hinweis auf die Dimension der Katastrophe ab: Das Unglück vom Montag sei „eines der größten der Weltgeschichte“ gewesen.

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