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Interview

Geschichts-Professor über NS-Zeit
„Zur Demokratiebildung gehört Geschichtsunterricht“

7 min
ARCHIV - 27.01.2025, Polen, Oswiecim: Zahlreiche Gebäude und Stacheldrahtbarrieren stehen im ehemaligen deutschen Konzentrationslager Auschwitz

Vernichtungslager Auschwitz: Raphael Lutz mahnt, neue Wege zu gehen, um das Wissen über die historische Verantwortung Deutschlands zu vermitteln.    Fotos: dpa

Vor allem unter den Jüngeren gibt es große Lücken im Kenntnisstand über die NS-Verbrechen, ergab eine Studie der Jewish Claims Conference. Raphael Lutz, Vorsitzender des Historikerverbandes, sieht deshalb dringenden Handlungsbedarf im Geschichtsunterricht.

Geschichtsunterricht ist für Lutz Raphael nicht bloß ein Schulfach, sondern wichtiger Baustein für die Demokratiebildung. Erst Anfang des Jahres zeigte eine Untersuchung gerade bei Jüngeren große Lücken im Wissen über die NS-Zeit und den Holocaust auf. Wird Deutschland immer geschichtsvergessener? Im Interview mit Maik Nolte spricht der Professor an der Uni Trier und Vorsitzende des Verbandes der Historikerinnen und Historiker in Deutschland (VHD) über Geschichtsbewusstsein, Fakes und Manipulationen – und warum Lehrer manchmal vor ihren Schülern kapitulieren.

Herr Raphael, hinter uns liegt der 80. Jahrestag des Kriegsendes. Angesichts von Berichten, denen zufolge der Kenntnisstand über die NS-Zeit gerade bei jüngeren Generationen lückenhaft ist: Graut dem Historiker da vor dem nächsten runden Jahrestag mit Kriegsbezug?

Ich bin eigentlich kein Schwarzmaler. Nach meiner Beobachtung ist mit dem zeitlichen Abstand zu den Schrecken und Verbrechen des Zweiten Weltkrieges und des Naziregimes das historische Bewusstsein nicht einfach zurückgegangen. Im Gegenteil: Nach einer Phase des Verdrängens, des Vergessenwollens, ist es mehr oder weniger kollektiv zurück ins Bewusstsein gekommen. Auch bei den Jüngeren.

Insofern ist der Transfer gelungen, aber wir müssen uns, glaube ich, anstrengen, die Wege zu modernisieren und nachzudenken, wie wir diese an die Medienkulturen unserer Zeit anpassen. Aber die Chancen stehen eigentlich nicht schlecht, denn das grundsätzliche Bewusstsein ist da.

Gleichwohl hatten Sie erst kürzlich gemeinsam mit dem Geschichtslehrerverband vor einem „Verblassen der historischen Erinnerung“ gewarnt und dringenden Handlungsbedarf angemahnt ...

Tatsächlich stellen wir seit längerem fest, dass Lehramt-Studierende des Fachs Geschichte bei uns an der Uni häufig wenig sichere Kenntnisse über die Kontexte des Nationalsozialismus, seine Strukturen, aber auch den Holocaust haben. Das zeigt, dass es durchaus Lücken gibt – und das lenkt den Blick aus meiner Sicht auf die Probleme der schulischen Vermittlung. Das muss man sich klarmachen. Und wenn diese Kenntnisse nicht da sind, wird auch die Vermittlung eines Bewusstseins um die historische Verantwortung und um Gefahren für die Demokratie schwieriger werden. Das müssen wir unbedingt diskutieren: Woran liegt das? Und wie kann man das abstellen?

Wo müsste man denn ansetzen?

Erstmal, indem man überhaupt Geschichtsunterricht ab Klasse 5 beziehungsweise Klasse 7 durchgehend anbietet, und zwar zeitlich ausreichend und von Fachlehrern erteilt. Wir haben häufiger die Situation, dass Schülerinnen und Schüler, wenn sie die Schule verlassen, über Geschichte immer nur in Kombination mit anderen Fächern überhaupt etwas erfahren haben, von Lehrkräften, die selbst nicht Geschichte studiert haben. Das sind Schwächen, die sich am Ende rächen. Die Rahmenbedingungen müssten institutionell und personell geprüft werden: Wie sieht es wirklich aus im Fach Geschichte?

Nicht gerade rosig, nehme ich an?

Wir kritisieren seit längerem, dass von der Ministerialseite auf Länderebene das Problem häufig schöngeredet wird. Schließlich gibt es ohnehin schon genug Brandherde im Bildungsbereich, da will man sich ungern auch noch darum kümmern müssen. Dabei ist das Problem Teil einer, um es vorsichtig zu formulieren, nicht zufriedenstellenden Schulpolitik angesichts finanzieller Engpässe in den meisten Bundesländern. Deshalb gab es auch mehrere Initiativen, die sagen: Demokratiebildung muss intensiver unterrichtet werden angesichts der vorhandenen Defizite und angesichts der Durchschlagskraft sozialer Medien mit Fake News. Und zur Demokratiebildung gehört Geschichtsunterricht. Das soll jetzt nicht bloß eine Verteidigung von Fachinteressen und einer Standespolitik von Geschichtslehrern sein. Da geht es schon ums Ganze. Sie müssen es nur mal vergleichen: Was wäre, wenn in Zeiten der Digitaltechnik der Mathematikunterricht systematisch ausfiele? Das wäre doch grob fahrlässig. Und das gilt genauso für dieses Thema.

Müsste der Geschichtsunterricht selbst nicht auch anders gedacht werden? Um es mal überspitzt zu sagen: Da wird öffentlich diskutiert, ob Hitler Kommunist war, aber in der Schule steht gerade nun mal das Alte Ägypten auf dem Lehrplan?

Natürlich muss man im Geschichtsunterricht auch Geschichts-Fakes thematisieren, Hitler war natürlich kein Kommunist, er war Nationalsozialist – da muss man dann darüber sprechen, warum da überhaupt der Begriff „sozialistisch“ auftaucht. Das lässt sich ja machen, erfordert aber auch Lehrkräfte, die handlungssicher und sprechfähig sind und die sich auch nicht von Provokationen aus dem Konzept bringen lassen.

Was das Alte Ägypten angeht: Wenn wir Geschichte gewissermaßen zur bloßen Vorgeschichte unserer Gegenwart reduzieren, fehlen uns die Möglichkeiten, gerade in einer viel stärker pluralisierten Gesellschaft so etwas wie Geschichtsbewusstsein zu vermitteln. Wenn die ganze Thematik der alten Hochkulturen, des Zusammenhangs zwischen den großen Religionen, im Geschichtsunterricht nicht behandelt wird, dann bekommen Sie am Ende Klischees. Und Fake News, die teils von Identitären verschiedener Strömungen gezielt über Social Media verbreitet werden und denen die Jugendlichen und Kinder mehr oder weniger intellektuell schutzlos ausgeliefert werden.

In den USA ist es die Regierung selbst, die nun anfängt, die Deutungshoheit über Geschichte an sich zu reißen. Sehen Sie diese Gefahr auch in Europa und in Deutschland?

In manchen europäischen Ländern auf jeden Fall. Generell haben Regierungen immer eine Neigung, sich die Vergangenheit zurechtzulegen, weil das eine unglaublich starke Quelle der Rechtfertigung des eigenen Handelns liefert. Und wir haben den Kopf voll von Vergangenheitsbildern, die in irgendeiner Form darüber mitbestimmen, was wir heute oder morgen tun. Nur: In den USA und anderen Ländern ist die Stellung der Geschichtswissenschaft auch schwächer als bei uns. Denn wir sind nach 1945 und auch nach 1990 sehr sensibilisiert worden, was die Manipulation von Geschichte angeht.

Auch die Durchsetzung einer radikal politisierten Geschichtswissenschaft ist bei uns nicht gelungen. Das Fach besteht ja nicht nur aus Menschen, die ein- und derselben Meinung sind. Wir haben ein breites Spektrum von Interpretationen, und vor allem haben wir einen Konsens, eine Überpolitisierung abzuwehren. Das finde ich gut, und das stärkt uns als eine kritische Instanz. Diese Selbstkorrektur funktioniert, auch wenn sie natürlich stets verteidigt werden muss.

Steht der Geschichtsunterricht nicht in harter Konkurrenz zu weit wirkmächtigeren Informationsquellen? Neben Sozialen Netzwerken oder Filmen könnte man sogar Videospiele dazu zählen.

Absolut. Ich und meine zwei Söhne waren zum Beispiel Fans des Spiels „Civilization“. Ich habe immer verloren gegen die beiden (lacht). Auf Historikertagen haben wir das Thema Geschichtsvermittlung in Videospielen längst auf dem Zettel, auch mit Blick auf die Schule.

Da wären wir bei den erwähnten neuen Wegen. Dinge, die eine andere Form von Anschaulichkeit herstellen, einfach zu verteufeln – das wäre genauso wie dieser Bildungsdünkel in den 50er-Jahren, als das Fernsehen aufkam. Da gab es natürlich immer Bedenkenträger, aber letztlich sind wir als Fachhistoriker mitgewachsen und müssen auch jetzt mitwachsen.

Denn wir sehen ja, dass die Möglichkeiten der Manipulation immer mehr verfeinert werden – da kommt es umso mehr auf Wachsamkeit, auf Überprüfungsfähigkeit, auf eine Faktenchecker-Mentalität bei den jungen Leuten an. Und da ist Geschichtsunterricht absolut wichtig. Und den kann man doch entstauben, den kann man doch total spannend gestalten. Die heutigen Studierenden und künftigen Lehrer werden sich also auch in Digital History auskennen müssen.

Wenn Sie jetzt die Möglichkeit hätten, einen bestimmten Pflock einzuschlagen, mit dem sich die Geschichtsvermittlung verbessern ließe – was würden Sie tun wollen?

Ich finde, die jetzigen Fachkräfte, die Geschichte unterrichten, müssen zwingend auch weiterqualifiziert werden. Sie müssen auf die Höhe der Probleme, über die wir jetzt diskutiert haben, gebracht werden, denn das sind sie nicht automatisch. Sie dürfen eben nicht vor einer Mischung von pubertärer Provokation und Halbwissen, das ihnen um die Ohren gehauen wird, kapitulieren.

Warum es keine Weiterbildungspflicht für Lehrerinnen und Lehrer gibt, verstehe ich nicht und halte das auch für fahrlässig. Mediziner, Psychologen, Therapeuten müssen sich weiterqualifizieren, ansonsten verlieren sie ihre Zulassung. Eine solche Verpflichtung ließe sich schnell einführen. Man müsste natürlich ein bisschen Geld in die Hand nehmen, aber nach ein, zwei Jahren haben sie glücklichere und besser informierte Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer – und damit einen besseren Geschichtsunterricht. Denn dort liegen ja die Probleme, nicht in den Lehrplänen.