Aus einer Schnapsidee wird ernstVier Wipperfürther erlebten das Golden Goal live

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Die vier Männer 25 Jahre später im Platz 16, wo die Idee zur Fahrt entstand.

Die vier Männer 25 Jahre später im Platz 16, wo die Idee zur Fahrt entstand.

Wipperfürth – Wenn am morgigen Dienstag die deutsche Fußballnationmannschaft im Achtelfinale im Wembleystadion gegegen England antritt, werden ganz besondere Erinnerungen wach. Besonders bei vier Wipperfürthern.

30. Juni 1996, London: Als der Ball nach Schuss von Oliver Bierhoff tatsächlich über die Torlinie kullert, kennt der Jubel keine Grenze mehr. Golden Goal, sofortiges Spielende. Deutschland ist Fußball-Europameister. Im Block 113 des Londoner Wembley-Stadions reißen vier Wipperfürther zeitgleich die Arme zum Himmel und vergießen Freudentränen. Der „verrückteste Trip unseres Lebens“, so erinnern sie sich heute, endet wahrhaftig mit dem Titelgewinn.

Spontane Idee wird zum festen Plan

Ungefähr 24 Stunden zuvor stimmt sich Wipperfürth allmählich auf das EM-Finale 1996 ein. Die Elf von Berti Vogts trifft auf Tschechien. Und zwar nicht irgendwo. „Wembley, da müssen wir doch hin“, fordert Siegbert Dierke an jenem Abend im Platz 16. Dort feiert Kumpel Markus Dohr gerade seinen Geburtstag, auch Thomas Eßer und Alexander Boxberg sind unter den Gästen. Zunächst erntet Dierke mit seinem Einfall von der spontanen Tour in die britische Hauptstadt vor allem Kopfschütteln. Doch er lässt nicht locker und schließlich wird ein Plan gefasst: 1 Uhr, Treffpunkt am Ecktisch. Wer dann dort steht, kommt mit.

Um kurz nach eins rumpelt der blaue Fiesta von Thomas Eßer durch die Nacht. Dierke hat zuvor am Marktplatz sein Konto geplündert. Das Quartett nimmt Kurs auf den Hafen von Ostende, wo die Fähre nach England ablegt. Die Zeit drängt, denn Tickets für das Finale besitzen die Wipperfürther nicht. Aber vielleicht lässt sich vor Ort etwas drehen. Bei Sonnenaufgang zeichnen sich die Kreidefelsen von Dover vor dem Bug ihrer Fähre ab. Spätestens jetzt bemerkt die Truppe, dass sie überhaupt nicht passend gekleidet ist. Schwarze Hose, weißes Hemd – dieses Outfit hatten die Wipperfürther in der festen Überzeugung aus dem Schrank genommen, der Sonntagmorgen werde im Kesselhaus enden.

Augenkontakt zu Matthias Sammer aus dem DFB-Buss

Bereits kurz hinter dem Anlegesteg beklatschen die Fans das erste Londoner Ortsschild. „Macht euch nichts vor – dann fahrt ihr immer noch Stunden“, rät Thomas Eßer Nachahmern. Am Mittag parkt er seinen Fiesta direkt vor der Wiege des Fußballs. Das alte Wembley-Stadion mit seinen weißen Doppeltürmen zieht die Wipperfürther sofort in seinen Bann. Weniger euphorisch stellen sie fest, dass alle Kneipen der Umgebung aus Angst vor deutschen Hooligans verbarrikadiert sind. Ein Großaufgebot von Bobbys patrouilliert vor dem Stadion, um einen Schwarzmarkt zu verhindern. „Keine Kneipen bedeuteten keine Tickets und nicht einmal die Chance, das Spiel im Fernsehen zu schauen“, blicken Dohr und Boxberg zurück.

Der DFB-Bus rauscht direkt an dem Quartett vorbei. Hinter einem Fenster entdecken die Männer Spielmacher Matthias Sammer, der wiederum die Wipperfürther anstarrt. „Ob das an unserer ungewöhnlichen Kleidung lag, konnte nie geklärt werden“, lacht Eßer. Jedenfalls fallen die Wipperfürther einem Engländer auf, der sie in einen Hinterhof lotst. Heute hat die Truppe unterschiedliche Erinnerungen an diesen Mann. Die einen fürchteten, den Hinterhof nicht mehr lebend zu verlassen. Andere winken ab. Unangenehm ist der Typ auf alle Fälle. Aber er besitzt Tickets. Im deutschen Block, wie er mehrfach versichert. Boxberg wird zum Geldautomaten geschickt, der Rest bleibt als Geisel im Hinterhof.

Teure Karten und Plätze im Fanblock der Tschechen

Nachdem Unsummen in den Taschen des Engländers verschwunden sind, stapft die Truppe tatsächlich in den Innenraum des Wembley-Stadions. Von einer Telefonzelle aus rufen die Männer im Platz 16 an, um mitzuteilen, dass sie es geschafft haben. Glauben will das am anderen Ende der Leitung niemand so recht. Es geht weiter, vorbei an Marcel Reif, der die Fernsehübertragung vorbereitet, direkt hinein in den Block 113, schräg hinter einem der Tore gelegen. „Da standen wir dann. Inmitten von 22 000 tschechischen Fans“, schütteln Dierke und Eßer lachend den Kopf. Nicht einmal mehr Geld für eine Cola besitzen die Wipperfürther – aber sie sind dabei.

Helmut Kohl kommt ins Stadion und dann stehen 80 000 Fußballfans auf und begrüßen die Queen mit der englischen Nationalhymne in Wembley. „Eine unbeschreibliche Atmosphäre – pure Gänsehaut, bis heute“, verrät Markus Dohr. Nur wenige Meter unter ihnen läuft die DFB-Elf ein. Oliver Kahn bemerkt die vier seltsam gekleideten Deutschen in der tschechischen Masse und wirft Dohr einen Ball zu. Beim Versuch ihn zu fangen, bleibt der Wipperfürther an der Sitzschale hängen und reißt sich die Wade auf. Der Ball ist futsch, das Bein dick und blau.

Golden Goal live im Stadion erlebt

Dazu kommt, dass die Tschechen in Führung gehen. „So viel Mühe und Geld investiert und jetzt verlieren die das Ding hier“, schimpfen die Vier. Bis Bierhoff nach dem Ausgleich auch das Golden Goal im Netz versenkt. Unter den vielen Jubelszenen, die das deutsche Fernsehen live überträgt, ist auch ein Schwenk der Kamera auf die vier Wipperfürther. Im Platz 16 klappt den Bekannten die Kinnlade herunter.

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Die Rückfahrt mit Tausenden deutscher Fans wird eine einzige große Party. Am Montagnachmittag rollt der blaue Fiesta wieder auf den Wipperfürther Marktplatz. Hundemüde aber unglaublich glücklich trinken Eßer, Dierke, Boxberg und Dohr ein letztes Bier im Platz, bevor sie für anderthalb Tage in ihren Betten verschwinden.

In diesem Sommer wird die Londoner Fußballstätte wieder Gastgeber des EM-Finales sein, das ist den vier Fans aus dem Bergischen natürlich längst aufgefallen. Genau 25 Jahre nach ihrem Trip. Den passenden Satz dazu hat Siegbert Dierke sofort parat: „Wembley, da müssen wir doch hin!“

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