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Stevia-SüßeAlternative mit bitterem Geschmack

Lesezeit 4 Minuten

Stevia ist etwa 300 Mal süßer als Zucker.

Als die Süße aus der Stevia-Pflanze vor einem Jahr in Deutschland freigegeben wurde, sahen viele einen Menschheitstraum erfüllt: Zuckersüß essen soviel wir wollen, ohne Gewichtszunahme und negative Auswirkungen auf die Gesundheit.

Lange hatten Stevia-Fans darauf gewartet, dass der Stoff, der 200 Mal süßer ist als Zucker, aber keine Kalorien hat, zugelassen wird. Zuvor waren die getrockneten Stevia-Blätter nur als Badezusatz im Reformhaus erhältlich und offiziell nicht für den Verzehr bestimmt. Heute ist nicht nur der reine Süßstoff auf dem Markt - in Pulver- und Tablettenform oder als Flüssigkeit - mittlerweile finden sich Steviolglykoside als Zusatzstoff E 960 auch in Lebensmitteln. Zahlreiche Hersteller, allen voran Coca Cola, haben sich Patente daran gesichert. Aber hält die Stevia-Süße, was wir uns von ihr versprochen haben?

Schokolade enthält Fett

Die Antwort muss wohl Ja und Nein lauten. "Manche Leute haben sich Dinge versprochen, die einfach Blödsinn sind", sagt Udo Kienle von der Universität Hohenlohe in Baden-Württemberg, der seit mehr als 30 Jahren an Stevia rebaudiana, so der wissenschaftliche Name der Pflanze, forscht. Zum Beispiel könnten mit Steviolglykosiden gesüßte Gummibärchen, Kekse und Schokolade immer noch keine Schlankmacher sein. "Kalorienfreie Schokolade ist eine Illusion", stellt der Agrarwissenschaftler klar. "Mit Stevia kann man bei einer Tafel Schokolade maximal 20 Prozent der Kalorien einsparen. Mehr geht nicht." Das liegt daran, dass Schokolade Fett enthält und der in ihr enthaltene Kakao ebenfalls Kalorien liefert. Im Gegensatz zu anderen Süßstoffen kann Stevia-Süße zum Backen verwendet werden, weil sie hitzestabil ist. Doch auch solches Gebäck ist nicht kalorienarm: "Das hat nicht weniger Kalorien als mit Zucker Gebackenes, weil Süßstoffe keine Masse haben", erklärt Kienle.

Um mit Steviolglykosiden als Süßungsmittel auf die gleiche Masse an Plätzchen zu kommen wie mit Zucker, braucht man also beispielsweise mehr Mehl, das wiederum Kalorien hat. Deshalb muss auch jedes Plätzchen- oder Kuchenrezept entsprechend umgerechnet werden, wenn es nicht von vorneherein auf Steviolglykosid ausgerichtet ist.

Die Stevia-Süße hat außerdem einen entscheidenden Nachteil: Sie ist nicht nur süß, sie ist auch bitter. Das kritisierten auch die Tester von Stiftung Warentest, die zum Jubiläum 16 mit Steviolglykosiden gesüßte Industrieprodukte, darunter etwa Schokolade, Getränke, Bonbons, Marmelade und Joghurt, mit den herkömmlichen Varianten verglichen. Weniger süß, weniger aromatisch und leicht bitter im Nachgeschmack waren die mit Stevia gesüßten Produkte. Einige hinterließen zudem ein stumpfes, belegtes Gefühl auf der Zunge. Udo Kienle ließ in einem anderen Test Versuchspersonen mit verschiedenen Steviolglykosiden gesüßte wässrige Lösungen probieren. Mit dem Ergebnis, dass 25 Prozent der Versuchspersonen alle Produkte bitter fanden, weiteren 25 Prozent alle Produkte schmeckten und 50 Prozent zwischen den Produkten differenzierten - einige schmeckten ihnen gut, andere nicht. "Offensichtlich gibt es große Unterschiede in der geschmacklichen Akzeptanz", sagt Kienle. "Natürlich vergleicht jeder die Süße des Steviolglykosids mit der reinen Süße von Zucker." Es sei zudem schwierig, bei der Gewinnung des Süßstoffs eine geschmackliche Konstanz zu erreichen.

Es gibt jedoch auch gute Nachrichten: "Man kann mit Stevia-Süße einen großen Teil des Zuckers einsparen", sagt Kienle. Sie ist zahnfreundlich und lässt Kienle zufolge auch keinen Heißhunger aufkommen, weil sie den Körper nicht dazu veranlasst, Insulin auszuschütten. Für Diabetiker kann Selbstgebackenes mit Dinkelmehl und Stevia-Süße - in Maßen genossen - deshalb eine Alternative sein.

Ein Löffel Stevia hat eine Kalorie

Mit Stevia-Süße in Tabletten- oder Pulverform für den Kaffee oder Tee lassen sich sogar richtig viele Kalorien einsparen: Während ein Kaffeelöffel Zucker rund 20 Kalorien enthält, kommt ein Kaffeelöffel Stevia-Süße auf nur eine Kalorie, die aus dem Trägerstoff Maltodextrin stammt und praktisch gar nicht zu Buche schlägt. Auch Stiftung Warentest bescheinigt vielen der getesteten Produkte, dass bis zu 50 Prozent der Kalorien eingespart werden. Allerdings ist bei einigen Lebensmitteln trotzdem noch herkömmlicher Zucker zugesetzt.

Das Glykosid selbst ist zwar nicht kalorienfrei, es wird jedoch vom Körper nicht verwertet. Außerdem benötigt man davon wesentlich weniger als von Zucker. Erythrol als Trägerstoff für Streusüße enthält sogar null Kalorien, ist jedoch auch wesentlich teurer.Häufig werden Steviolglykoside fälschlicherweise für ein natürliches Süßungsmittel gehalten. Tatsächlich sind sie zwar natürlichen Ursprungs und nicht, wie andere Süßstoffe, künstlich hergestellt. Allerdings werden Chemikalien verwendet, um die reine Süße aus der Stevia-Pflanze zu gewinnen. Deswegen kritisiert Stiftung Warentest auch die Auslobung "Mit Stevia" auf einigen Produkten - gemeint ist schließlich nicht die naturbelassene Pflanze, sondern das chemisch gewonnene Steviolglykosid. Dabei benötige man eigentlich überhaupt keine Chemikalien zur Gewinnung des Süßungsmittels, erklärt Udo Kienle: "Es wäre möglich, aus Stevia einen natürlichen Süßstoff zu gewinnen. Leider hat die Industrie einen anderen Weg gewählt." Die Zulassung von Stevia wäre sonst noch teurer und langwieriger geworden. Hätte man nämlich darauf verzichtet, den möglichst reinen Süßstoff mithilfe von Chemikalien zu extrahieren, wäre das Endprodukt ein natürliches, aber weitaus komplexeres Stoffgemisch - das noch aufwendigere Tests erfordert hätte. "Sollte das natürliche Süßungsmittel eines Tages zugelassen werden, hätte es eine große Zukunft", ist sich Udo Kienle sicher. Wann es soweit sei, das stehe jedoch noch in den Sternen.