Prozessauftakt in KölnAnklage offenbart unerträgliche Details im Missbrauchsfall Wermelskirchen

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Auf dem Weg auf die Anklagebank: Der 45-jährige Angeklagte hielt sich zum Schutz vor den Fotografen eine Mappe vor das Gesicht.

Der 45-jährige Angeklagte hielt sich zum Schutz vor Fotografen eine Mappe vor das Gesicht.

Jahrelang soll sich ein heute 45-Jähriger als Babysitter angeboten und Kinder sexuell missbraucht haben. Der Fall ist erschütternd. Nun begann der Prozess gegen den Mann aus Wermelskirchen.

Der Vorsitzende Richter Christoph Kaufmann kennt das Grauen schon. Noch bevor die 128 Seiten voller unvorstellbarer Taten verlesen werden, wendet er sich einem Jugendlichen im Zuschauerraum zu und bittet ihn, zu gehen. „Die Anklagepunkte, die gleich verlesen werden, sind zu verstörend“, begründet er. Bei Fall 11 verließen dann die ersten Zuschauer und Journalisten den Saal 7.

Wie Kaufmann voraussagte: Unerträglich sind die Details der Anklage, die dem 45-jährigen Angeklagten Markus R., zuletzt wohnhaft in Wermelskirchen, zur Last gelegt werden. Dabei tragen die Anklägerinnen erst wenige Minuten vor. Es ist 10.30 Uhr. Das Grauen im Saal 7 wird noch bis 12.28 Uhr dauern. Eine Tortur selbst für erfahrene Gerichtsreporter. Mehrfach noch müssen sie den Saal verlassen. So massenhaft die Taten, so spärlich die Notizen auf ihren Blöcken. Was von diesen furchtbaren Details kann überhaupt gedruckt, gepostet, gesendet werden? Was von dem Grauen, das Juristen als „Wermelskirchen-Komplex“ zusammenfassen, kann Menschen außerhalb des Saals 7 zugemutet werden?

Auch behinderte Kinder als Opfer ausgewählt

Immer wieder berichtet die Anklägerin davon, wie Kleinkinder und Babys von dem 45-Jährigen brutal missbraucht worden sein sollen, teilweise über Jahre. Die Staatsanwältin spricht häufig von Analverkehr, Urinieren auf den Körper der Kinder und vielen weiteren perversen Praktiken. In einem Forum seien Infos über Spiele mit Windeln ausgetauscht worden. In anderen Foren seien die vom Angeklagten angefertigte Filme der Taten verbreitet worden. Das jüngste Opfer war vier Wochen alt.

Aktenordner mit dem Hinweis "Sonderheft Lichtbilder" liegen beim Missbrauchskomplex Wermelskirchen im Gerichtssaal.

Aktenordner mit dem Hinweis „Sonderheft Lichtbilder“ liegen im Gerichtssaal.

Der Angeklagte wählte laut Anklage auch schwer behinderte Opfer: Ein Kind war demnach spastisch gelähmt, ein weiteres Kind konnte nicht sprechen oder laufen. Dieses Opfer soll der Angeklagte auf einer Toilette missbraucht haben. Seinen Opfern habe er sich unter anderem genähert, indem er sich als Babysitter und Betreuer angeboten habe, hieß es weiter. Zudem soll er mit anderen Männern in Kontakt gestanden und diese etwa zu Missbrauch per Chats animiert haben. Die Tatorte waren etwa in Köln, Münster, Solingen, Troisdorf, Wuppertal, Rösrath oder Bergisch Gladbach, erläuterte die Staatsanwältin.

Zitternde Hände beim Angeklagten

Als der Angeklagte in den Gerichtssaal geführt wird, zittern seine Hände. Er hält sich eine Mappe vor das Gesicht und hat eine Kapuze über den Kopf gezogen. Als die Fotografen und Kameraleute den Saal verlassen haben, bekommen die Prozessbeobachter einen völlig unscheinbaren Mann mit Brille zu sehen, die Haare akkurat frisiert, das Hemd gebügelt.   Auch der 45-Jährige hat die Anklage vorliegen und liest sie mit. Das Zittern ist weg. Dem Anschein nach ungerührt folgt er der Verlesung der ihm vorgeworfenen Taten.

Nach quälenden zwei Stunden und dem Ende der Verlesung ergreift der Kölner Anwalt Christian Lange das Wort. Er verteidigt den 45-Jährigen. „Die soeben verlesene Anklage wird von dem Angeklagten vollständig eingeräumt. Alle dort erhobenen Vorwürfe treffen zu“, sagte er. Darüber hinaus stehe sein Mandant auch für Fragen zur Verfügung. Ziel sei es, die „für alle Verfahrensbeteiligten nicht einfache Beweisaufnahme“ möglichst abzukürzen.

Zudem kündigte der Anwalt ein Schmerzensgeld an, dass den Opfern „kurzfristig“ gezahlt werden solle. Der Anwalt sagt, sein Mandant sei in der Presse vereinzelt als „Monster“ bezeichnet worden. Wenn man die Anklage gehört habe, sei diese Bezeichnung „vielleicht gar nicht so falsch“. Das Gericht solle aber auch sein heutiges Verhalten betrachten. „Wir gehen davon aus, dass man dann zu der Überzeugung kommt, dass hier heute eine andere Persönlichkeit sitzt. Die jedenfalls heute nicht mehr das Monster ist, das alle fürchten müssen.“

Festnahme erfolgte während einer Videokonferenz bei der Arbeit

Den Wermelskirchener hatten Spezialkräfte im vergangenen Dezember festgenommen. Publik gemacht wurde der Fall von den Ermittlern dann im Sommer 2022. Um unverschlüsselten Zugriff auf Dateien zu bekommen, sollen Einsatzkräfte den Mann am eingeschalteten Rechner überwältigt haben – während einer Videokonferenz mit Arbeitskollegen. Diese glaubten offenbar zunächst, es handle sich um einen Überfall. Die mutmaßlichen Taten und das gefundene Material lösten Fassungslosigkeit aus. „Ein solches Ausmaß an menschenverachtender Brutalität und gefühlloser Gleichgültigkeit gegenüber kleinen Kindern, ihren Schmerzen und ihren Schreien ist mir noch nicht begegnet“, so Kölns Polizeipräsident Falk Schnabel damals.

Die Aufdeckung des Falls hatte große Wellen geschlagen, weil er zu zahlreichen Ermittlungsverfahren gegen weitere Beschuldigte führte. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft sind es mittlerweile mehr als 130. Bei dem Angeklagten waren große Datenmengen sichergestellt worden.

Der Fall steht für viele Beobachter in einer Reihe mit anderen großen Missbrauchskomplexen der vergangenen Jahre – etwa mit Lügde, Bergisch Gladbach und Münster. Ermittler stießen dabei auf zum Teil weit verzweigte Geflechte aus Missbrauchstaten und Tätern.

In Bergisch Gladbach etwa waren bei einem Familienvater nicht nur große Mengen kinderpornografischen Materials, sondern auch Chats und Kontakte zu anderen Männern gefunden worden, die im Internet Videos und Abbildungen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs austauschten. Das Kölner Landgericht beschrieb die Festnahme bei seinem Urteil gegen den Mann rückblickend als „Erdbeben“ für die Szene.

Sprengstoff-Spürhund schlug am Justizzentrum an

Bevor der Prozess am Nikolaustag begann, war die Aufregung bei den Sicherheitskräften schon zu früher Stunde groß. Weil ein Sprengstoff-Spürhund an einem Wendehammer hinter dem Justizzentrum angeschlagen hat, war Alarm ausgelöst worden. Der Hund hatte in der Nähe des Zelleneingangs angeschlagen, in der der Angeklagte vorgeführt werden sollte. Mehrere Prozesse an diesem Tag, darunter das Drach-Verfahren, begannen deshalb mit reichlich Verspätung.

Schon nach kurzer Zeit konnten herbeigerufene Entschärfer aber Entwarnung geben. Der Hund habe an einem Blumenkübel vor dem Gebäude gebellt. An der Stelle sei aber kein Sprengstoff gefunden worden. „Da war nichts“, sagt ein Polizeisprecher. Am Dienstagmorgen waren Straßen am Justizgebäude wegen den Prozessen um den „Wermelskirchen-Komplex“ und dem Schwerverbrecher Drach   mit hohen Sicherheitsvorkehrungen um 6 Uhr kurzfristig gesperrt worden.

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