Obwohl Albert Einstein persönlich gar nicht anwesend war, wurden auf der Naturforscherversammlung in Köln 1908 die Grundlagen seiner Allgemeinen Relativitätstheorie gelegt. Anselm Weyer begibt sich erneut auf Spurensuche.
Spurensuche zu Albert EinsteinWie ein Vortrag in Köln die Physik revolutionierte

Albert Einstein war beim Kongress selbst nicht anwesend.
Copyright: F. Schmutzer, Archiv
Eigentlich hatte er kommen wollen, doch Albert Einstein war einfach zu müde, um nach Köln zu fahren. Die Arbeit im Patentamt forderte ihren Tribut. Also entschloss er sich nach langem Abwägen, seine wenigen freien Tage während der Amtsferien einem wirklichen Urlaub zu widmen und das wissenschaftliche Großereignis des Jahres 1908 zu schwänzen: die Naturforscherversammlung in Köln, bei der ihn Max Planck so gerne gesehen hätte. So bekam er gar nicht persönlich mit, wie Hermann Minkowski in der Aula der Handelshochschule die Grundlage für die Allgemeine Relativitätstheorie legte.
Minkowski entdeckt Einsteins Theorien
Mit Interesse hatte der Mathematiker Hermann Minkowski gelesen, was dieser Albert Einstein da 1905 publiziert hatte und was als spezielle Relativitätstheorie die Grundlagen der herkömmlichen Physik ins Wanken bringen sollte. Einstein verkündete unter anderem, dass Energie und Masse in Relation zueinander stünden. Dass die Lichtgeschwindigkeit immer konstant sei. Und kam zu etlichen zunächst aberwitzig anmutenden Schlussfolgerungen. Dass etwa Zeit für sich bewegende Objekte langsamer verging als für ruhende.
Der schwänzende Student
Minkowski kannte diesen Albert Einstein. Der war doch sein Student gewesen. Minkowski hatte am Polytechnikum in Zürich Mathematik gelehrt. Zu seinen Vorlesungen hatten auch Physiker gehen müssen. Ab 1896 auch Einstein, der damals noch Physiklehrer werden wollte. Dabei hatte der Student allerdings nun wirklich keinen sonderlich überzeugenden Eindruck hinterlassen. Zwar äußerte er sich durchaus wohlwollend zu Vorlesungen von Minkowski. Jene zu „Anwendungen der analytischen Mechanik“ sei „die erste Vorlesung über mathematische Physik, die wir am Poly hören“, sagte Einstein anerkennend. Doch letztlich hielt er eine abstrakte mathematische Ausbildung für eher hinderlich für einen problemorientierten Physiker wie ihn. Und dieser Einstein sollte jetzt die Physik auf den Kopf stellen? „Ach der Einstein, der schwänzte immer die Vorlesungen“, schüttelte Minkowski entsprechend gegenüber seinem Assistenten Max Born den Kopf, als er nun konzentriert dessen Theorien las, „dem hätte ich das gar nicht zugetraut.“
Das Mathematik-Genie Minkowski
Allerhand zutrauen konnte man andererseits Hermann Minkowski. Der 1864 im heutigen Litauen geborene Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie war fast schon ein Wunderkind und galt als einer der größten Mathematiker der Gegenwart. Abitur mit 15 Jahren. Gewinner mehrerer mathematischer Preise. Und nach Stationen an den Universitäten in Bonn, Königsberg und Zürich seit 1902 Professor in Göttingen, einer Hochburg der damaligen mathematischen Welt. Hier erwachte sein Interesse für die Physik. Dabei kam er zum Schluss, dass Einstein in seiner radikalen speziellen Relativitätstheorie noch nicht weit genug gegangen war. Außerdem schienen ihm Einsteins algebraischen Gleichungen zu kompliziert. Nichts gegen das heute berühmte E=mc². Aber könnte man nicht viel eleganter ans Ziel kommen, wenn man sich der Geometrie bediente?

Die ehemalige Handelshochschule beherbergt heute das Hansa-Gymnasium.
Copyright: Maike Böschemeyer
Der revolutionäre Vortrag in Köln
1908 fuhr so ziemlich alles, was sich im deutschsprachigen Raum mit Wissenschaft beschäftigte zum Forschertreffen nach Köln – auch Minkowski. Er kannte die Domstadt. Hier hatte sein Bruder Oskar von 1900 bis 1905 am Augusta-Hospital zwischen Zülpicher Straße und Otto-Fischer-Straße gewirkt. 3023 Personen sollten den mehrtägigen Kongress besuchen, darunter 752 Frauen. Unter anderem Max Born, Max Planck und etliche andere spätere Nobelpreisträger saßen im Auditorium, als am 21. September Hermann Minkowski in der Aula der Handelshochschule an der Claudiusstraße ans Rednerpult trat, um über „Raum und Zeit“ zu sprechen. „Die Anschauungen über Raum und Zeit, die ich ihnen entwickeln möchte, sind auf experimentell-physikalischem Boden erwachsen“, begann er seinen Vortrag. „Darin liegt ihre Stärke. Ihre Tendenz ist eine radikale. Von Stund' an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbstständigkeit bewahren.“
Die Fachwelt ist perplex
Fachwelt und interessierte Laien rieben sich die Ohren und versuchten zu verstehen, was der große Minkowski da gesagt hatte. Der dreidimensionale Raum von Euklid war Vergangenheit? Er sollte nun nur noch in Einheit mit der Zeit als vierter Dimension gedacht werden dürfen? Warum? „Die veränderte Auffassung der Welt als eine Art Union von Raum und Zeit ermöglicht wesentliche Fortschritte in der Theorie der Elektrizität und des Magnetismus und fordert schließlich zu einer Revision der gesamten Physik heraus“, versuchte tags darauf die Kölnische Zeitung zu erklären.
Einsteins späte Erkenntnis
Und Albert Einstein? Der bekam erst mit Verzögerung mit, was sein alter Professor Minkowski in seinem Vortrag am Rheinufer so von sich gegeben hatte. Abstrakte Mathematik hatte ihn früher nicht interessiert. Und das hatte sich noch nicht geändert. Entsprechend zeigte er sich nicht sonderlich beeindruckt von diesem vierdimensionalen „Minkowski-Raum“. „Seit die Mathematiker sich meiner Theorie angenommen haben, verstehe ich sie selbst nicht mehr“, frotzelte er. Minkowskis Überlegungen seien „überflüssige Gelehrsamkeit“. Mit Verzögerung aber erkannte er das revolutionäre Potenzial, das im Minkowski-Diagramm steckte. Könnte man mit dieser vierdimensionalen Raumzeit nicht vielleicht auch das Problem der Gravitation lösen? Was, wenn die Raumzeit nicht flach sein müsse, wie Minkowski annahm. Was, wenn Masse die umgebende Raumzeit krümmen würde und es eben diese Krümmung der Raumzeit wäre, die wir als Schwerkraft erleben? Einstein nahm den Vortrag seines ehemaligen Lehrers zum Ausgangspunkt, um bis 1915 seine allgemeine Relativitätstheorie zu entwickeln. Nicht ohne Minkowski später ausdrücklich zu loben und zu sagen, dass ohne ihn und seine Raumzeit „die allgemeine Relativitätstheorie vielleicht in den Windeln stecken geblieben wäre.“
Minkowskis Vermächtnis
Ein anderer schöner Nebeneffekt von Minkowskis Vortrag in Köln zeigte sich für Einstein deutlich schneller. Der große Minkowski hatte sich mit diesen kruden Theorien von diesem Patentamtsangestellten beschäftigt? Dann war da ja vielleicht doch etwas dran. Minkowskis Vortrag führte dazu, dass Einstein im Bewusstsein der Fachwelt etabliert wurde. Schon im September 1909 durfte Einstein als einer der Hauptredner bei der Versammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte in Salzburg sprechen.
Doch das bekam Hermann Minkowski schon nicht mehr mit. Auch nicht, wie Einstein sich zum Popstar der Wissenschaft entwickelte. Nur kurze Zeit nach seinem revolutionären Vortrag über „Raum und Zeit“, am 12. Januar 1909, starb er mit nur 44 Jahren in Göttingen an einem Blinddarmdurchbruch.