Mit Bernd Imgrund spricht die Ehrenamtlerin über ihre Erfahrungen bei der nächtlichen Seelsorge, Jürgen Domian und die katholische Kirche.
Gespräch mit Kölner Telefonseelsorgerin„Ich hatte einen jungen Mann am Telefon, der sagte, er stehe schon auf der Brücke“
Ich treffe Tanja G. im Büro der Kölner Telefonseelsorge. Wo es genau liegt, soll geheim bleiben. Die ehrenamtlichen Seelsorger werden dadurch geschützt vor etwaiger Nachverfolgung.
Wie war Ihre letzte Schicht?
Unaufgeregt. Nicht jede Schicht ist Drama. Viele Menschen meinen, sie dürften hier nur im absoluten Notfall anrufen. Aber bei uns darf sich jeder melden, der ein ernsthaftes Problem hat.
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Womit wendet man sich häufiger an Sie: ,Mein Partner geht fremd’ oder ,Ich will mich umbringen’?
Oft gibt es ein Thema hinter dem vorgeblichen Thema des Anrufs. Und sehr oft geht es um Einsamkeit. Aber auch um Trennung, Ängste oder Alltagsprobleme wie Nachbarschaftsstreitigkeiten oder Mobbing am Arbeitsplatz.
Warum steht die Einsamkeit offenbar an Nummer 1?
Viele Menschen leben allein, ohne Umfeld, und in der Stadt sind sie weitgehend anonymisiert.
Bei Ihnen rufen mehr Frauen als Männer an, schätze ich.
Das stimmt. Männer fressen Probleme eher in sich hinein. Dem entspricht, dass Selbsttötungen häufiger von Männern begangen werden.
Das Prinzip „Lonesome Cowboy“ funktioniert offenbar nur im Film. Aber ehrlich gesagt, würde ich auch nicht bei Ihnen anrufen.
(lacht) So ein Anruf ist nichts Ehrenrühriges. Es gibt Probleme, die man eben nicht mit dem Partner oder besten Freund besprechen will, sondern mit einer neutralen Person.
Mache Kunden melden sich immer wieder bei Tanja G.
Sagen Ihnen viele Menschen, dass Sie eine schöne Stimme haben?
Finde ich persönlich gar nicht. Wenn ich mich höre, finde ich den Klang eher befremdlich.
Können Sie singen?
Ich singe gern, aber mein Mann sagt, nicht besonders gut. (lacht)
Sie machen nur Nachtdienste. Wie unterscheiden die sich von Tagschichten?
Die Nacht erhöht den Druck. Wer nicht schlafen kann, weil er ein Problem wälzt, greift eher zum Telefon. Oft geht es dann um verschiedenste Ängste, eine Panikattacke zum Beispiel.
Was sagen Sie dann?
Ich versuche zu beruhigen: Atmen Sie mal tief ein und aus … Keine Angst, Sie sind nicht allein, ich habe jetzt Zeit für Sie. Und Ähnliches.
Haben Sie so etwas wie Stammkunden?
Menschen etwa mit permanenten psychischen Problemen oder wiederkehrenden Depressionen rufen immer wieder an, ja. Wir nennen uns ja nicht beim Namen, aber manche erkenne ich anhand ihrer Stimme oder ihrer Geschichte wieder.
Lässt sich die Seelsorge vom Privatleben trennen?
Sagt auch mal jemand danke?
Das passiert oft, ja. Da war mal diese Frau, die schon lange einen Hund haben wollte. Monate später hatte es dann offenbar geklappt, und sie erkannte mich beim nächsten Anruf wieder. Sie war sehr euphorisch, und gleichzeitig sehr dankbar für unser erstes Gespräch.
Was ist demgegenüber wirklich erschütternd?
Wenn jemand mit akuter Suizidabsicht anruft. Ich hatte mal einen jungen Mann am Telefon, der sagte, er stehe schon auf der Brücke und wolle sterben. Ich habe versucht, ihn zu beruhigen und ihn nach seinen Gründen gefragt. So kam allmählich ein Gespräch zustande, wir sind gut auseinandergegangen. Ich glaube nicht, dass er in jener Nacht gesprungen ist.
Sie haben in den nächsten Tagen nichts darüber in der Zeitung gelesen?
Ich glaube, die Presse hält sich heutzutage zurück bei Artikeln über Suizide. Wegen des Nachahmungseffekts ist das auch gut so. Was mich ebenso schockiert, sind die Gespräche mit Frauen, die von Missbrauch berichten. Oft geht es um schreckliche Erlebnisse aus der Kindheit, die man auch als Erwachsener nicht loswird. Die Dunkelziffer ist in diesem Bereich weitaus größer, als man öffentlich wahrnimmt.
Nehmen Sie einzelne Fälle mit nach Hause?
Ich kann recht gut abschalten. Ganz bewusst fahre ich für die Seelsorge-Schichten hierhin ins Büro, um auch einen räumlichen Abstand zu gewährleisten. Nach der Schicht tauschen wir uns bei der Übergabe aus, außerdem haben wir alle zwei Wochen eine Supervision. Was mich länger beschäftigt, sind weniger die belastenden als die interessanten Themen.
Zum Beispiel?
Ich übe dieses Ehrenamt auch aus, weil ich es spannend finde, mit vielen verschiedenen Menschen und Schicksalen zu tun zu haben. Sei es ein blinder Mensch mit einem Beziehungsproblem oder jemand mit einer seltenen Krankheit: Ohne die Telefonseelsorge hätte ich sie wahrscheinlich nie kennengelernt.
Hört sich so an, als hätten Sie geradezu Spaß an Ihrem Job.
Man hebt das Telefon ab und weiß nicht, was passiert. Ich habe hier eine tolle, bereichernde Aufgabe, und auch das Miteinander gefällt mir sehr gut.
Haben Sie dennoch schon mal daran gedacht, hinzuschmeißen?
In kurzen Momenten. Zuweilen gibt es aggressive Anrufer, die uns ihre Regeln vorgeben wollen. Da sage ich dann klar, dass sie sich beruhigen und später nochmal anrufen sollen.
Tanja G. bevorzugt das Telefon gegenüber einem Bildschirm
Warum wollen Sie in diesem Interview Ihren Nachnamen nicht gedruckt sehen?
Weil unser Dienst anonym ist, beidseitig. In der Regel geht es hier um einmalige Kontakte, weitere Verabredungen sind nicht vorgesehen. Das dient nicht zuletzt als Schutz für uns Ehrenamtler, wir wollen nicht nachverfolgbar sein.
Was würde sich ändern, wenn Sie über einen Bildschirm kommunizieren würden?
Würde ich nicht wollen. Am Telefon ist man näher dran.
Weniger sinnliche Eindrücke und dennoch näher dran?
Wenn man den anderen nicht sieht, traut man sich mehr und öffnet sich bereitwilliger. Die Stimme verrät auch sehr viel – Aufregung, Angst, Empörung.
Wie fanden Sie Jürgen Domians Fernseh-Seelsorge?
Nicht seriös! Domian hat aus der Sache eine Show gemacht und sich an Problemen teils geweidet. Ich hätte nicht angerufen.
Man könnte auch Sie für anmaßend halten: kein Semester Psychologie studiert, aber Menschen mit existenziellen Nöten helfen wollen.
Wir sind keine Therapeuten. Aber bevor wir das erste Gespräch führen, haben wir eine sehr fundierte, einjährige Ausbildung durchlaufen. Da geht es durchaus auch ans Eingemachte, um die Selbstwahrnehmung etwa.
Bei Kölner Telefonseelsorge arbeiten 70 Ehrenamtler
Haben Sie sich mal überfordert gefühlt bei jemandem?
Es gibt Momente, in denen einem nichts Positives einfällt. Weil da eben nichts Positives ist. Dann muss man versuchen, das Schwere mit auszuhalten. Wenn der Anrufer sein Problem ausgesprochen hat, ist es nicht weg. Aber meistens geht es ihm danach besser.
Warum haben Sie hier angefangen?
Telefonseelsorge fand ich schon immer interessant. Mich faszinieren Menschen, die sich für andere einsetzen. Ich habe jahrelang in verschiedenen Pfarrgremien gearbeitet und 2016 bewusst nach einem neuen, sinnvollen Ehrenamt gesucht.
Sie hätten ja auch sagen können, ich lerne richtig gut stricken oder fange mit Stand-Up-Paddling an.
Es ging mir nicht um ein Hobby. Ich habe ein gutes Leben, für das ich dankbar bin. Andere Leute hatten weniger Glück, ich möchte etwas zurückgeben.
Aber das Ehrenamt stirbt trotzdem aus, oder?
Es wird vermutlich schwieriger, Ehrenamtler für freiwillige Arbeit zu gewinnen. Aber hier bei der Telefonseelsorge liegen wir eher nicht im Trend. Hier arbeiten 70 Ehrenamtler unter tollen Bedingungen, manche sind seit Jahrzehnten dabei.
Waren Sie schon immer katholisch?
Ich komme aus einem katholischen Umfeld, war Messdienerin, habe katholische Jugendarbeit gemacht und dabei meinen Mann kennengelernt. Und ich arbeite als Sekretärin eines katholischen Pfarramtes.
Klingt überzeugt. Haben Frauen genug zu sagen in der katholischen Kirche?
Nein. Frauen haben dort keinen guten Stand. Ohne Frauen könnte die Kirche gar nicht existieren. Aber die Machtverteilung ist ungerecht, vor allem junge Frauen lassen sich das nicht gefallen.
Was muss geschehen?
Die Hierarchien, die männliche Dominanz muss aufgebrochen werden. Wenn eine Frau Priesterin werden möchte, muss ihr das möglich sein. Die Evangelischen können’s ja auch.
Die einfachste Frage zum Schluss: Wie zeigt sich Ihnen Gott?
Als ich 2013 den Jakobsweg gegangen bin, habe ich Gott gespürt. Ich habe mich behütet und aufgehoben gefühlt: Ich bin nicht allein, Gott ist bei mir. Sonst hätte ich es wahrscheinlich gar nicht geschafft bis Santiago de Compostela.
Zur Person
Tanja G., geboren 1968, wuchs im Saarland auf. Sie machte eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten und zur Sekretärin. Fünf Jahre lebte sie mit ihrer Familie in der Schweiz, bevor sie ins Rheinland umsiedelte.
2016 begann sie, neben ihrer Arbeit als Pfarramtssekretärin ehrenamtlich bei der katholischen Telefonseelsorge Köln zu arbeiten. Damit ihr Name nicht zurückverfolgt werden kann, bleibt er hier abgekürzt. Tanja G. hat zwei erwachsene Kinder und eine Enkeltochter. Sie wohnt im Rhein-Sieg-Kreis. Wer selbst an solch einem Ehrenamt interessiert ist, kann sich unter dieser Verlinkung informieren.
Beratung und Seelsorge in schwierigen Situationen
Kontakte | Hier wird Ihnen geholfen Wir gestalten unsere Berichterstattung über Suizide und entsprechende Absichten bewusst zurückhaltend und verzichten, wo es möglich ist, auf Details. Falls Sie sich dennoch betroffen fühlen, lesen Sie bitte weiter: Ihre Gedanken hören nicht auf zu kreisen? Sie befinden sich in einer scheinbar ausweglosen Situation und spielen mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen? Wenn Sie sich nicht im Familien- oder Freundeskreis Hilfe suchen können oder möchten – hier finden Sie anonyme Beratungs- und Seelsorgeangebote. Telefonseelsorge – Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen Sie rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen Sie Ihre Sorgen und Ängste teilen können. Auch ein Gespräch via Chat ist möglich. telefonseelsorge.de Kinder- und Jugendtelefon – Das Angebot des Vereins „Nummer gegen Kummer“ richtet sich vor allem an Kinder und Jugendliche, die in einer schwierigen Situation stecken. Erreichbar montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr unter 11 6 111 oder 0800 – 111 0 333. Am Samstag nehmen die jungen Berater des Teams „Jugendliche beraten Jugendliche“ die Gespräche an. nummergegenkummer.de. Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention – Eine Übersicht aller telefonischer, regionaler, Online- und Mail-Beratungsangebote in Deutschland gibt es unter suizidprophylaxe.de Beratung und Hilfe für Frauen – Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen" ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 08000 116 016 und via Online-Beratung unterstützen werden Betroffene aller Nationalitäten rund um die Uhr anonym und kostenfrei unterstützt. Psychische Gesundheit – Die Neurologen und Psychiater im Netz empfehlen ebenfalls, in akuten Situationen von Selbst- oder Fremdgefährdung sofort den Rettungsdienst unter 112 anzurufen. Darüber können sich von psychischen Krisen Betroffene unter der bundesweiten Nummer 116117 an den ärztlichen/psychiatrischen Bereitschaftsdienst wenden oder mit ihrem Hausarzt Kontakt aufnehmen. Außerdem gibt es in sehr vielen deutschen Kommunen psychologische Beratungsstellen.