BundeskunsthalleSensationelle Schau zu Ernst Ludwig Kirchner in Bonn

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Kirchner

Bunte Alpenidylle: Kirchners „Sertigtal im Herbst“, 1925/1926, aus dem Kirchner-Museum in Davos.

Bonn – „Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt.“ Dieser Kernsatz aus dem Manifest der Künstlergruppe Brücke trifft besonders auf das Gründungsmitglied Ernst Ludwig Kirchner zu. Aus jedem seiner Werke spricht, was ihn zum Schaffen drängte: Es ist die erotische Anziehungskraft weiblicher Leiber, die sich in Gemälden und Skulpturen niederschlägt, die Faszination für das Urwüchsige, Wilde in der Natur, das sich in einem starken Kolorit und ungestümen Pinselzügen manifestiert; und es ist schließlich die unbändige Sehnsucht nach dem Fernen und Exotischen, die Kirchner von den Brücke-Jahren nach 1905 bis zum Suizid 1938 aus Angst vor dem Einmarsch der Deutschen in Davos nicht losließ.

Afrika und die Südsee übten einen unglaublichen Zauber auf den Maler aus. Doch während etwa seine Brücke-Kollegen Max Pechstein und Emil Norde, die Kirchners Sehnsucht teilten, in die Südsee und nach Neuguinea reisten und weitere Weggenossen wie Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff in ganz Europa unterwegs waren, hat Kirchner nie die Grenzen Deutschlands und der Schweiz verlassen.

Der „andere Kirchner“ im Fokus

Er ist anders gereist, ließ seinen Sehnsüchten nur in der Fantasie freien Lauf. Er richtete sich sein Wohnatelier mit exotischen Wandteppichen voller abstrahierter erotischer Motive in Anspielung auf das Dekor der Balken von Palau (Südsee) ein, ahmte afrikanische Skulptur und Möbel nach, umgab sich mit dunkelhäutigen Modellen, deren Bewegungen und Anmut er in Skizzen und Gemälden wie „Negertänzerin“ festhielt. Kirchners Kontakt mit der fernen, exotischen Welt beruhte auf Erfahrungen aus zweiter Hand. Er war sehr belesen, liebte es, ethnografische Sammlungen zu besuchen. Seine Reisen zu den Sehnsuchtsorten waren imaginär, erträumte Reisen. „Erträumte Reisen“, so hat die Bundeskunsthalle ihre sensationelle aktuelle Kirchner-Ausstellung genannt, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, eben nicht die hundertste Kirchner-Retrospektive zu zeigen, sondern den „anderen Kirchner“, wie Katharina Beisiegel vom Art Center Basel das nennt. Es ist gelungen.

Der „andere Kirchner“ ist der Kirchner nach 1918, der gewöhnlich in Retrospektiven nicht so häufig und so ausführlich zu sehen ist: In 20 Jahren hat er in der Schweiz ein fulminantes Spätwerk hingelegt, hat mit dem Expressionismus gebrochen, sich der flächigen Malerei Picassos angenähert, hat angesichts der Davoser Berge zu einer neuen, explosionsartigen Farbigkeit gefunden. Der „andere Kirchner“ ist schließlich auch der Fotograf Kirchner.

Die mit 220 Werken, darunter 56 Gemälden aus Sammlungen in Deutschland, der Schweiz (das Kirchnermuseum in Davos hat allein 130 Werke nach Bonn geschickt) und den USA üppig ausgestattete Schau bietet einen exzellenten Überblick über Kirchners Leben und Werk. Die „Brücke“-Jahre in Dresden und Berlin (verzichtet wurde auf die sattsam bekannten Straßenbilder) sind gut dokumentiert. Ausführlich geht die Schau auf Kirchners kleine Fluchten an die Moritzburger Seen und nach Fehmarn ein, wo exotische, wilde Fantasielandschaften und ausgelassene Idyllen nackten Treibens entstehen.

Der Kontrast zu 1915 könnte nicht heftiger sein: „Unfreiwillig freiwillig“ hatte er sich zum Heeresdienst gemeldet, schon im November des Jahres wurde er wegen einer psychischen Erkrankung entlassen. Doch das Trauma des Krieges, den er „blutiger Karneval“ nannte, behielt ihn im Griff. Das Kolorit seiner Werke verdüsterte sich, die Zeichnung wurde hart und fahrig.

Als er 1917 erstmals nach Davos kam, war er ein Wrack, alkoholkrank, von Tabletten abhängig, voller Panik. Erst später kam es zur Farbexplosion, die sein Spätwerk zum Ereignis macht. Das Panorama der Berge trifft auf wahrhaft surreale Momente und die Magie des Exotischen. Das muss man gesehen haben!

Informationen zur Austellung

Die Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner. Erträumte Reisen“ ist bis zum 3. März 2019 in der Bundeskunsthalle in Bonn zu sehen, Di, Mi 10-21, Do-So 10-19 Uhr. Katalog (Prestel): 35 Euro.

Warnung: Eine politisch korrekte Schau in einer Bundesinstitution kommt nicht ohne Warnhinweise aus. Kirchner, Kind seiner Zeit, im wilhelminischen Deutschland aufgewachsen, und von dessen kolonialer Tradition berührt, hat zum Beispiel eine Figur „Negertänzerin“ genannt, hat seine Kindermodelle Fränzi und Marzella „in aus heutiger Sich untragbaren, da nicht altersgerechten und sexualisierten Posen“ gemalt. Davon distanziert sich die Bundeskunsthalle. (t.k.)

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