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lit.CologneSusanne Abel berührt mit Geschichte deutscher Heimkinder

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Susanne Abel liest aus ihrem Roman „Du Musst Meine Hand Fester Halten, Nr. 104" im Rahmen der lit.Cologne.

Susanne Abel liest aus ihrem Roman „Du Musst Meine Hand Fester Halten, Nr. 104" im Rahmen der lit.Cologne. 

Im Roman „Du Musst Meine Hand Fester Halten, Nr. 104" schildert Susanne Abel die Brutalität, die Heimkinder nach 1945 erfuhren.

„Als ich erfahren habe: ,Hier werden wir platziert.“, habe ich gedacht: ,Passt!'“, sagt Susanne Abel. Hier, das ist die Kulturkirche, wo die gefeierte Autorin im Rahmen der „lit.Cologne spezial“ ihren neuen Roman „Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104“ vorstellt. Unterstützt wird sie dabei von Moderator Joachim Frank, der kurzfristig für die erkrankte Caroline Grafe eingesprungen ist, und Schauspielerin, Synchronsprecherin, Hörbuch- und Hörspielstimme Vera Teltz.

Getrennt von den Eltern

Passend ist der Ort insofern, weil im Mittelpunkt von Abels drittem Bestseller die Schicksale zweier Menschen stehen, die sich 1947 in einem von Nonnen geführten Kinderheim im Sauerland kennenlernen. Die zwölfjährige Margret Tacke aus Gelsenkirchen und der fünfjährige Hartmut Willeiski aus Zoppot bei Danzig sind zwei von Hunderttausenden Kindern, die im Krieg von ihren Eltern getrennt wurden. Entweder durch deren Tod oder deren ungeklärtes Verbleiben oder die Wirren von Flucht und Vertreibung. In den kirchlich geführten Heimen beiderlei Konfessionen erlebten sie Furchtbares.

Auf einer zweiten Erzählebene begegnet man den beiden als Ehepaar wieder, in den Nuller- und Zehnerjahren des zweiten Jahrtausends. Hardy, wie er sich jetzt nennt und Margret sind inzwischen Urgroßeltern, ihre 2001 geborene Urenkelin Emily, die bei ihnen in Köln-Poll lebt, repräsentiert die vierte Generation. Eine, die neugierig ist, Fragen stellt und wissen will. Während die, die so traumatisiert wurden, lieber schweigen. „Wir glauben nicht an Gott“, sagt Margret zu Emily, als die sie fragt, warum sie nicht beten.

Mit gutem Grund. Kinderarbeit, Gewalt, sexueller Missbrauch und Psychoterror waren in diesen kirchlichen Kinderheimen der Nachkriegszeit gang und gäbe. „Die Verbrechen der Kirche müssen in die Kirche“, sagt Abel. Sie ist meinungsfreundig, sehr empathisch, sie kommt in der ausverkauften Kulturkirche warmherzig und engagiert rüber. Mit Joachim Frank und Vera Teltz hat sie zwei wunderbare Verbündete auf ihrer Seite. Frank wurde 2023 mit dem „Stern-Preis“ in der Kategorie „Lokales“ für seine journalistische Arbeit über den Missbrauchsskandal im Erzbistum Köln und über Kardinal Rainer Woelki ausgezeichnet.

Nummern statt Namen

Teltz hat schon die Hörbuch-Ausgaben von Abels Romandebüt „Stay away from Gretchen“ (2021) und der Fortsetzung „Was ich nie gesagt habe: Gretchens Schicksalsfamilie“ (2022) eingesprochen und leiht nun „Du musst meine Hand festhalten, Nummer 104“ ihre wandlungsfähige, präzise modulierende Stimme. Der Abend wird ein voller Erfolg. Zumal es auch reichlich lokalen Bezug gibt: Frank ist Chefkorrespondent des „Kölner Stadtanzeiger“, Teltz absolvierte ihre Schauspielausbildung am Theater Der Keller, und Abel lebt heute überwiegend in Köln.

Die Geschichte von Hartmut und Margret, die im Heim statt Namen Nummern tragen, was sonst nur beim Militär, in Gefängnissen oder in Lagern der Fall ist, geht an Grenzen. „Ist das nicht sehr belastend?“, fragt Frank nach. „Diese Entmenschlichung in den Nummern, die habe ich mir wirklich nicht ausgedacht“, antwortet Abel, „ebenso wenig wie eine einzige all der Brutalitäten. Das ist in der Tat sehr belastend. Das ist keine Fantasy, das hat es wirklich gegeben. Ich musste manchmal auch Pause machen.

Ich war früher Erzieherin und habe einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, wenn irgendjemand ungerecht behandelt wird, werde ich zur Furie.“ Inspiriert zu ihrem neuen Roman wurde sie vom Schicksal ihres aus dem Iran stammenden Kardiologen, der als Kind von Schleppern nach Deutschland gebracht und im Stich gelassen wurde. Er landete in einem Kinderheim: „Der tolle Navid hat nicht nur mein Herz repariert, er hat auch dieses Kinderheim in mein Herz gepflanzt.“ Im Buch hat sie ihm mit der Figur von Dariush, dem Vater von Emilys bester Freundin Simin, ein Denkmal gesetzt.

Als Versuchskaninchen missbraucht

Auch Sylvia Wagner verdanke sie viel, sagt Abel. Wagner, die Pharmakologin, die selbst in einem Kinderheim und bei Pflegeeltern aufwuchs, machte publik, dass Tausende Heimkinder als Versuchskaninchen für noch nicht frei gegebene Impfstoffe und Psychopharmaka missbraucht wurden. So wie Hartmut. Inmitten all des Grauens und der Willkür gibt es aber auch Stellen im Buch, die schmunzeln machen.

Erleichternde Passagen mit hinreißender Situationskomik, handfestem Humor oder kindlicher Logik. Etwa wenn der allgegenwärtige Jesus am Kreuz als „Rückenschwimmer“ identifiziert wird: „Das hat mir auch gut getan. Wenn ich wusste, da ist jetzt Horror über mehrere Seiten angesagt, dass da jetzt was kommt, dass einen da wieder rausholt.“

Susanne Abel: Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104. dtv, 544 S., 24 Euro.