„Wir müssen handeln“Waffengewalt ist die offene Wunde Amerikas

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US-Präsident Joe Biden bei seiner Ansprache.

US-Präsident Joe Biden bei seiner Ansprache.

  • Amoklauf Nach dem schlimmsten Schulmassaker in den USA seit einem Jahrzehnt vermischt sich Trauer mit Wut.
  • Wieder einmal werden Rufe nach einem schärferen Waffenrecht laut.
  • Doch wieder einmal deutet wenig darauf hin, dass sich etwas ändert.

Uvalde – Jeden Tag sterben in den USA Menschen durch Waffen. Ständig wird das Land von Amokläufen heimgesucht. Doch eine Gewalttat, wie sie am Dienstag den Bundesstaat Texas erschütterte, übersteigt selbst dort die Grenzen des Vorstellbaren.

Ein junger Mann stürmt bewaffnet in eine Grundschule und schießt um sich. Mindestens 19 Schulkinder sterben. 19 Jungen und Mädchen, die sich vielleicht darauf gefreut hatten, nach der Schule mit ihren Freunden zu spielen. Nun sind sie tot. Auch zwei Lehrer sterben. Andere Kinder und Erwachsene bleiben mit Verletzungen zurück – und mit Angst und dem Trauma, dass sie diesen brutalen Gewaltausbruch miterleben mussten.

Amoklauf beginnt nicht in der Schule

Was kann einen Menschen dazu antreiben, ausgerechnet in einer Grundschule ein solches Blutbad anzurichten? Was ist los in diesem Land? Der Amoklauf in der kleinen Stadt Uvalde ist eine der verheerendsten Attacken dieser Art in den USA und lässt viele Amerikaner ratlos und fassungslos zurück. Wieder einmal.

Die Welt in dem 16000-Einwohner-Ort nahe San Antonio in Texas wird jäh aus den Fugen gerissen: Nach bisherigen Erkenntnissen schießt der 18-jährige Täter zunächst nach einem Streit auf seine Großmutter. Dann flüchtet er mit einem Auto, verfolgt von einem Grenzschutz-Beamten, den er später anschießt. Nahe der Robb Elementary School baut er einen Unfall und dringt schließlich bewaffnet in die Grundschule ein. Der Haupteingang ist zwar verschlossen, wie es in fast allen amerikanischen Schulen nach Unterrichtsbeginn üblich ist. Doch Polizeiangaben zufolge feuert der 18-Jährige auf eine Glasscheibe in der Tür und öffnet sie dann von innen.

21 Todesopfer in nur zwei Minuten

Als Polizisten herbeieilen, verschanzt sich der junge Mann, der eine schusssichere Weste trägt, in einem Klassenraum und beginnt, auf Kinder und Lehrer zu schießen. Sein erstes Opfer wird vermutlich Eva Mireles, seit 17 Jahren Lehrerin an der Grundschule. Sie habe sich schützend vor die Kinder gestellt, heißt es später. Bis die alarmierten Sicherheitskräfte nur zwei Minuten später in den Raum eindringen und den Schützen gezielt töten, sind 21 Leben ausgelöscht.

Die große Frage nach dem Warum bleibt zunächst unbeantwortet. Fühlte sich der junge Mann von dem Täter animiert, der vor zehn Tagen in der Stadt Buffalo im Bundesstaat New York in einer überwiegend afro-amerikanischen Gemeinde aus rassistischen Gründen zehn Menschen in einem Supermarkt erschossen hatte? Berichten zufolge hatte der Amokläufer von Uvalde, der eine Oberschule des texanischen Städtchens besuchte, an seinem 18. Geburtstag zwei Gewehre legal erworben und sie eine Woche vor der Tat stolz in sozialen Medien präsentiert. Angeblich habe er auch im Internet davon gesprochen, die Kinder in der Stadt hätten Grund dazu, sich zu fürchten. Doch offenbar wussten davon die örtlichen Behörden nichts.

Wenige Stunden nach der Attacke versucht US-Präsident Joe Biden in Worte zu fassen, was viele Eltern in Uvalde womöglich fühlen: „Ein Kind zu verlieren, ist, als wenn einem ein Stück der eigenen Seele entrissen wird“, sagt er im Weißen Haus. Biden kennt diesen Schmerz: Er verlor als junger Mann seine erste Ehefrau und seine kleine Tochter bei einem Autounfall. Später starb einer seiner erwachsenen Söhne an Krebs. Es sei, als ob man selbst ersticke, erinnert sich Biden.

Biden: „Wir müssen handeln“

Dann redet sich der Präsident in Rage über eine Epidemie an Waffengewalt, die es sonst nirgendwo auf der Welt gebe, über irrsinnige Gesetze und jahrzehntelange politische Untätigkeit.„Ich habe es satt“, sagt er. „Wir müssen handeln.“ Das „Gemetzel“ dürfe nicht immerzu weitergehen. „Die Vorstellung, dass ein 18-jähriger Junge in einem Laden zwei Schnellfeuergewehre kaufen kann, ist einfach falsch. Die dienen doch nur zum Töten!“

Biden erinnert an jene Attacke von 2012, die diesem Angriff in Texas auf so erschreckende Weise ähnelt: In Newton im Bundesstaat Connecticut drang damals ein 20-Jähriger mit schweren psychischen Problemen in seine frühere Grundschule ein und tötete 20 Schulkinder und sechs Lehrer, nachdem er zuvor seine Mutter erschossen hatte. Das Massaker an der Sandy Hook Elementary School stach selbst im Land der ständigen Schießereien auf brutale Weise heraus.

Doch wer dachte, dass die Waffenanhänger im Land spätestens nach diesem unfassbaren Verbrechen zur Vernunft kommen würden, der täuschte sich. Alle Versuche, die Waffengesetze in den USA deutlich zu verschärfen, schlugen fehl.

Amokläufe sind nur ein kleiner Ausschnitt

Die Schießereien gingen weiter: in Schulen, in Supermärkten, in Kirchen, in Synagogen. Allein im vergangenen Jahr zählte die US-Bundespolizei FBI 61 Amokläufe mit Schusswaffen im Land – etwa einer alle sechs Tage. Und das ist nur ein minimaler Ausschnitt. Das Ausmaß an Waffengewalt insgesamt ist in den USA ungleich größer. Pistolen und Gewehre sind extrem leicht zu kaufen. Laut Statistik der Gesundheitsbehörde CDC wurden im Jahr 2020 in den USA rund 20000 Menschen erschossen – mehr als 50 pro Tag.

Amerika dürfe die tägliche Waffengewalt nicht einfach akzeptieren, fordert eine Mutter, die 2012 ihren kleinen Sohn bei dem Amoklauf an der Sandy-Hook-Grundschule verlor, im Interview des Senders CNN. „Man kann sich nicht vorstellen, was die Eltern dort gerade für einen Horror durchleben“, sagt sie mit Blick auf Uvalde. „Ich weiß nicht, wie viel mehr unser Land noch aushalten kann.“

Wenn es um eine Verschärfung der Gesetze geht, zeigt Biden mit dem Finger auf den US-Kongress. Denn für weitreichende Gesetzesänderungen fehlen seinen Demokraten die nötigen Stimmen im Senat. Viele Republikaner lehnen schärfere Regeln dagegen weiterhin ab: Das Recht auf Waffenbesitz ist für viele Konservative in den USA eine Art Heiligtum, der Inbegriff von Freiheit, ein Grundrecht, das nicht anzutasten ist. Die Waffenlobby in den USA ist enorm mächtig. Besonders im konservativen Süden, in Texas, findet sie seit jeher viel Gehör.

„Lehrer sollten Waffen tragen“

Direkt nach dem Blutbad von Uvalde bringen erste Republikaner das altbekannte Argument vor, dass nicht Waffen das Problem seien, sondern lediglich einzelne ihrer Besitzer. Ihre Lösung, wie immer: bewaffnetes Sicherheitspersonal auf Schulgeländen. Manche Konservative meinen sogar, Lehrer sollten Waffen tragen.

Mehr Waffen gegen Waffengewalt? Auf demokratischer Seite wächst die Wut darüber, dass nach jedem Shooting die Debatte neu beginnt und das Schießen und Morden doch immer weitergeht. „Was machen wir?“, fragt Chris Murphy am Mittwoch bei einem emotionalen Auftritt im US-Senat. An seine Kollegen dort gerichtet wettert der demokratische Senator: „Warum machen Sie sich die Mühe, diesen Job zu bekommen, wenn Ihre Antwort lautet, dass wir nichts tun, während diese Metzelei zunimmt und unsere Kinder um ihr Leben rennen?“

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Für den Präsidenten bedeutet der zweite schwerwiegende Amoklauf in kürzester Zeit derweil auch politischen Ballast. Zwar formulierte Biden am Dienstagabend auch: „Wann in Gottes Namen werden wir uns gegen die Waffenlobby erheben?“ Doch gleichzeitig muss er sich persönlich kritische Fragen gefallen lassen.

Denn schließlich war er vor zehn Jahren Vorsitzender einer vom damaligen Präsidenten Barack Obama geschaffenen Kommission, die nach dem Sandy-Hook-Blutbad Maßnahmen gegen solche Amokläufe auf den Weg bringen sollte. Doch fast alle Initiativen versandeten auf dem Kapitol. Gestern hieß es in mehreren US-Organisationen, die sich gegen Waffengewalt richten, Biden habe keinen Plan und keine Vision, das Leben für Kinder in den USA sicherer zu machen. (dpa/EB)

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