„Wir werden sie rauswerfen“Was über die Gegenoffensive der Ukraine bisher bekannt ist

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Schon seit Wochen kündigt Kiew die Rückeroberung besetzter Gebiete an.

Schon seit Wochen kündigt Kiew die Rückeroberung besetzter Gebiete an.

  • Die Truppen der Regierung in Kiew starten offenbar eine Offensive im Süden des Landes und bringen damit allem Anschein nach die Russischen Besatzer in Bedrängnis.
  • Mit genauen Details halten sich beide Seiten jedoch bedeckt.

Köln – Hat die lange erwartete Offensive der Ukraine im russisch besetzten Südteil des Landes begonnen? Auch wenn die Darstellungen in Kiew und Moskau auseinandergehen und unabhängig nicht zu überprüfen sind: Beide Seiten berichten von schweren Kämpfen im Raum Cherson. Was ist bis jetzt bekannt?

Das Kampfgebiet

Schon seit einem guten Monat hat Russland seine Truppen in der Südukraine verstärkt, auch zu Lasten der Front im Donbass. Schon das galt westlichen Militärexperten als Erfolg: „Die Ukraine übernimmt die strategische Initiative und zwingt die russische Armee, ihre Truppen neu aufzustellen, um der ukrainischen Gegenoffensive zu begegnen“, schrieb das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) Anfang August. Während der Donbass, also die ukrainischen Bezirke Donezk und Luhansk, eine kompakte Landmasse mit einer langen Grenze zum russischen Hinterland darstellt, in dem Russland Material und Truppen sammeln kann, kontrolliert Russland im Süden einen Gebietsstreifen parallel zu den Küsten von Schwarzem und Asowschen Meer – über 400 Kilometer lang, aber nur gut 100 bis 120 Kilometer breit.

Große Teile dieses Geländes liegen damit im Einwirkungsbereich ukrainischer Himars-Raketenwerfer und ähnlicher Waffensysteme. Nachschub kann Russland nur auf zwei Wegen heranführen: aus dem Donbass oder von der russisch okkupierten Halbinsel Krim. Transporte aus dem Donbass nach Westen laufen über den Bahnknoten Melitopol, wo es ständig ukrainische Raketenschläge und Partisanenangriffe gibt. Die Bahnverbindung aus der Krim wurde durch die schweren Explosionen unterbrochen, die es vor zwei Wochen in einem Munitionslager in Dschankoj im Norden der Halbinsel gab. Der aktuelle Zustand der Strecke ist unklar.

Der russisch besetzte Südstreifen wird durch den Fluss Dnipro geteilt. Auf dem rechten, westlichen Ufer liegt Cherson – derzeit die einzige ukrainische Bezirkshauptstadt in russischer Hand und Schauplatz intensiven ukrainischen Widerstandes. Cherson und sein Umland sind insgesamt die einzigen Flächen westlich des Dnipro, die Russland bislang besetzt hat. Die Ukraine hat alle drei Brücken, die in dem Gebiet über den Dnipro führen, für Schwertransporte unbrauchbar gemacht und auch Übergänge über den Inhulez angegriffen, einen Nebenfluss des Dnipro. Diese Region ist das Zentrum der aktuellen Kämpfe.

Vorbereitungen zur Offensive

Bis zum Wochenende gab es kaum Bewegung im Raum Cherson. Nahezu täglich war aber von Raketenangriffen die Rede, mit denen die Ukraine russische Munitionsdepots zerstörte. Das wirkte wie ein Teil der seit Monaten zu beobachtenden ukrainischen Zermürbungstaktik, war aber vielleicht mehr: Die Ukraine habe begonnen, das Kampfgebiet in ihrem Sinne zu „formen“, ließ sich ein US-Regierungsvertreter am Montag zitieren. Der britische Militärgeheimdienst sieht inzwischen große Nachschubprobleme für die Russen in Cherson.

Nach wie vor hat Russland kein wirksames Gegenmittel gegen den Beschuss aus den Himars-Raketenwerfern – auch wenn das russische Verteidigungsministerium immer wieder behauptet, man habe solche Systeme zerstört. Mindestens in zehn Fällen habe Russland aber keine Himars-Systeme getroffen, sondern zur Irreführung aufgestellte Holzattrappen, berichtet die „Washington Post“ unter Berufung auf Informationen aus dem Pentagon. Dagegen gibt es bisher keinen Hinweis darauf, dass die Ukraine auch nur einen der westlichen Raketenwerfer verloren hätte.

Was über die Kämpfe bekannt ist

Die ukrainische Militärsprecherin Natalia Humeniuk hat am Montag „offensive Aktionen in verschiedene Richtungen“ bestätigt. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach gestern von Kämpfen im gesamten Raum Cherson, die die Nacht über angehalten hätten. Auch der russische Generalstab bestätigt ukrainische Angriffe, die man aber komplett – bei hohen Verlusten für die Ukrainer – zurückgeschlagen haben will. Äußerungen regimetreuer russischer Militärblogger ergeben kein einheitliches Bild. Einige unterstützen die offizielle Darstellung, während zum Beispiel Blogger Andrej Dromow von „sehr großen Verlusten unter den Unseren“ schrieb und vor einem Verlust der Stadt Cherson warnte. Igor Girkin alias Strelkow behauptete sogar, die Ukrainer würden russische Truppen jetzt direkt mit Himars-Werfern beschießen, also nicht mehr nur weiter entfernte Ziele hinter der Front damit angreifen.

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Gegenüber dem US-Sender CNN haben anonyme ukrainische Offizielle mehrere Orte genannt, die die ukrainische Armee befreit habe – teils im Südwesten nahe der Stadt Cherson, teils im Norden (Archanhelske am Inhulez). Im russischen Blog „Greyzone“ ist zu lesen, die Ukrainer seien von einem Brückenkopf am Ostufer des Inhulez aus etwa sechs Kilometer weit vorgestoßen. Laut Nachrichtenagentur Ukrinform hat das im Süden eingesetzte, teilweise wohl aus Zwangsrekrutierten zusammengestellte 109. Regiment der „Donezker Volksrepublik“ die Flucht ergriffen, russische Fallschirmjäger hätten sich angeschlossen – sollte das stimmen, würde auch dies für einen ukrainischen Erfolg bei Archanhelske sprechen. Offiziell bestätigt ist davon nichts. „Möchte jemand wissen, was wir planen?“, hat Selenskyj erklärt: „Sie werden nichts Genaues von irgendeiner wirklich verantwortlichen Person hören, denn es ist Krieg. Aber die Besatzer sollten wissen: Wir werden sie rauswerfen – bis zurück zu unseren Grenzen“.

Es ist auch unklar, was die Ukraine mit der Stadt Cherson vorhat. Nach einer auch im Westen viel zitierten früheren Analyse des ukrainischen Militärjournalisten Illia Ponomarenko will die Ukraine Kämpfe um diese Stadt, die unweigerlich zu großen Zerstörungen führen würden, vermeiden und hofft, die russischen Truppen „auszuhungern“. Entsprechend zurückhaltend kommentiert er Berichte über einen angeblich bereits erfolgten ukrainischen Durchbruch: „Lasst uns abwarten, bevor wir beginnen, etwas Großes zu erwarten.“

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