Forscherin Bettina Rulofs im InterviewStudie: 70 Prozent melden Gewalt im Sport

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Symbolbild

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  • Ein Forschungsprojekt untersucht sexualisierte Gewalt im organisierten Sport.
  • Mit Studienleiterin Bettina Rulofs von der Kölner Sporthochschule sprach Eva Burghardt über Grenzüberschreitungen und fehlende Schutzkonzepte.

Köln – Frau Rulofs, von den 4300 Befragten in Ihrer Studie gaben 70 Prozent an, bereits eine Form der Gewalt, Grenzverletzung oder Belästigung im Sportkontext erlebt zu haben. Jeder fünfte Befragte gibt an, im Verein schon eine Form von sexualisierter Gewalt erlebt zu haben. Gleichzeitig hat die große Mehrheit der Befragten angegeben, sehr gute Erfahrungen im Vereinssport gemacht zu haben. Wie passt das zusammen?

Ich denke, es ist wichtig zu sehen, dass eine einmalige Gewalterfahrung im Sport für Betroffene, wie etwa bedroht oder beschimpft zu werden, nicht gleich die ganze Zeit im Sportverein negativ erscheinen lässt. Trotz solcher negativen Erfahrungen mit Gewalt, die in der Studie auch explizit als negativ abgefragt wurden, haben die meisten Personen, die wir befragt haben, und die meisten von Gewalt Betroffenen eine hohe Zufriedenheit mit dem Vereinssport. Hier ist zu differenzieren: Im Sport Gewalt zu erfahren, trübt nicht generell positive Einschätzung der Sportvereinszeit.

Über den Missbrauch in der katholischen Kirche oder über pädokriminelle Täter im Internet wird verhältnismäßig viel berichtet und diskutiert. Was den Sport angeht, scheint das Bewusstsein besonders durch die kürzlich veröffentlichte Dokumentation über den Missbrauch des Olympia-Schwimmers Jan Hempel größer zu werden. Woran liegt das?

Also für mich und viele andere in der Sportszene ist das Thema schon lange präsent. Aber wir müssen auch sehen, dass der größte Teil der Bevölkerung etwas absolut Positives mit dem Sport verbindet - und das ist ja auch grundsätzlich sehr nachvollziehbar. Dies lässt uns aber oftmals darüber hinwegsehen, dass es auch hier schwere Formen von Gewalt gibt, etwa im Fall von Jan Hempel, aber auch in vielen anderen Fällen. In unserer Studie gibt es ja auch Vereinsmitglieder, die angegeben haben, dass sie schwere sexuelle Gewalt im Sport erlebt haben. Dies betrifft einen kleinen Anteil unserer Stichprobe, und wir haben nur 4000 Personen befragt. Wenn wir das einmal hochrechnen würden auf mehrere Millionen Menschen, die in Deutschland in Sportvereinen aktiv sind, dann wissen wir, dass die Zahl derjenigen, die extrem negative Erfahrungen im Sport gemacht haben, deutlich höher ist als Einzelfälle.

„Eigentlich möchte ich das nicht so gerne“

Der Reitlehrer kannte das Mädchen, seit es mit zehn Jahren mit dem Sport angefangen hat. Als die junge Sportlerin 15 ist, stirbt ihre Großmutter. Der Mann, über 60 Jahre alt und eine „Autoritätsperson“ im Reitstall, tröstet sie, hört ihr zu und nimmt sie in den Arm. Dann will er von dem Mädchen wissen, ob es schon mal Sex hatte. Damit fängt es an. Eineinhalb Jahre missbraucht er die Jugendliche im Reitstall. Als sie sich ihrer Familie anvertraut, reagiert diese mit Unverständnis. Ihr Vater will nicht glauben, dass dieser angesehene Mann so etwas tut. Sie geht weiter in den Reitstall, bis sie zusammenbricht und sich einer Ärztin anvertraut. Sie reitet nie wieder. Über dreißig Jahre ist dieser Fall her, den eine Person anonym auf der Website „Geschichten, die zählen“ veröffentlicht hat. Geschichten wie diese finden sich dutzende auf der Seite der von der Bundesregierung eingesetzten Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Eine Betroffene schreibt: „Man bräuchte Anlaufstellen, dass man als junger Mensch weiß: Okay, ich fühle mich jetzt in einer Art und Weise berührt, das möchte ich eigentlich nicht so gern.“

Viele Opfer von sexuellem Missbrauch im Sport wenden sich an die Kommission. Die hat jetzt in einer Studie unter anderem ausgewertet, welche persönlichen Erlebnisse Betroffene mit der Aufdeckung von sexualisierter Gewalt im organisierten Sport haben und welche Strukturen die Aufklärung fördern können. Die Ergebnisse werden in Kürze vorgestellt. (ebu)

Die Schattenseiten im Sport werden also gerne auch mal ausgeblendet?

Es ist einfach ein stark tabuisiertes Thema. Das war es in der Kirche auch über viele Jahre und das war es eben noch länger im Sport. Berichtet wurde darüber schon öfter, aber es stimmt, dass die Dokumentation über Jan Hempel noch einmal etwas ausgelöst hat, weil sie besonders breit ausgestrahlt wurde.

Wie bewerten Sie das?

Ich denke , dass das positiv zu sehen ist. Ich weiß vom Journalisten Hajo Seppelt, der den Film über Jan Hempel gemacht hat, und von einschlägigen Anlaufstellen, dass sich Betroffene nach einer solchen Doku melden. Ich habe auch Anfragen von Betroffenen erhalten nach der Ausstrahlung. So etwas wird wahrgenommen, gerade von denjenigen, die selber solche Erfahrungen haben. Die fühlen sich dann eher ermutigt, sich auch zu melden. Was wir in Deutschland vor allem brauchen, sind kompetent und unabhängig besetzte Anlaufstellen für Gewaltbetroffene im Sport.

Verbände brauchen Unterstützung

Was könnte eine solche Anlaufstelle leisten?

Dort arbeitet geschultes Personal, das Betroffene berät und sie unterstützt. Eben so wichtig ist aber, dass die Verbände Unterstützung bekommen, beim Umgang mit Fällen.

Wieso ist das notwendig?

Viele Verbände wie etwa der Schwimmverband sind bislang mit der Veröffentlichung solcher Fälle noch nicht konfrontiert gewesen oder haben sich damit noch zu wenig auseinandergesetzt. Die Spitzenverbände organisieren in erster Linie Sportwettkämpfe und fördern die Entwicklung ihrer Sportarten. Die stehen jetzt vor der Aufgabe, sich mit Gewaltopfern auseinanderzusetzen. Wenn sie nun die Betroffenen unterstützen wollen und solche Fälle aufklären möchten, benötigen sie fachliches Knowhow, Ressourcen und Kompetenzen. Hinzu kommt, dass eine solche Aufarbeitung nicht vom verbandseigenen Personal durchgeführt werden kann. Und da braucht es eben eine externe Stelle, die solche Interventions- und Aufarbeitungsprozesse ganz systematisch und ohne Interessenskonflikte betreiben kann.

Man kann sich schon vorstellen, dass ein kleiner Verein mit einem solchen Thema erstmal überfordert ist.

Es ist interessant, dass der Schutz von Kindern aber auch von Erwachsenen noch zu selten im Aufgaben-Portfolio von Vereinen verankert ist. Es gibt noch zu wenig Wissen, zu wenig Verantwortlichkeiten in den Sportvereinen und das liegt daran, dass sie sich immer zuerst einmal auf das Sportliche konzentrieren. Und das Sportliche bedeutet meistens, am Wochenende erfolgreich zu sein, beim nächsten Spiel, beim nächsten Wettkampf gut abzuschneiden. Dass es dabei aber um Kinder und Jugendliche geht, die ein Recht auf körperliche, psychische und sexuelle Unversehrtheit haben; dass es auch bei Erwachsenen Rechte darauf gibt, in der Menschenwürde geschützt zu werden, das sind noch zu häufig Themen, die in den Vereinen weniger im Fokus sind.

Umsetzung ist wichtig

In Ihrer Studie stellen Sie fest, dass nur die Hälfte der untersuchten Verbände nach außen hin sichtbar etwa auf ihrer Website Angebote und Beratungen zu diesem Thema haben. Eine kurze Recherche auf den Websites einiger Kölner Vereinen bestätigt das.

Beim Stadtsportbund Köln und beim Landessportbund NRW können die Vereine gute Unterstützung für dieses Thema bekommen. Sie müssen es dann aber auch selbst vor Ort und in ihrem Verein umsetzen. Das ist wichtig, wenn wir uns vor Augen führen, dass der Sportverein neben der Schule die Institution ist, wo sich Kinder am häufigsten aufhalten. Für die Schule etwa gibt es konkrete Vorgaben. Da gibt es Interventionspläne und Regeln dafür, wie Kinder zu schützen sind. Bei den überwiegend ehrenamtlich geführten Sportvereinen sind diese Schutzkonzepte noch zu selten vorhanden, Ansprechpersonen fehlen in den Vereinen oder sind nicht sichtbar. Es ist auch so, dass Eltern den Vereinen einen enormen Vertrauensvorschuss geben. Nur wenige Eltern fragen nach solchen Schutzkonzepten. Das wird zwar und ist positiv, dass sich das gerade ändert, aber lange Zeit war es ja auch üblich, dass Eltern die Kinder einfach abgeben zum Training und dann ist gut.

Aus der Studie geht hervor, dass Menschen, die Sport im Leistungs- und Wettkampfbereich praktizieren, häufiger von solchen negativen Erfahrungen berichten. Liegt das nur daran, dass diese Menschen mehr Zeit mit dem Sport und im Verein verbringen?

Das werden wir jetzt in vertiefenden Analysen genauer untersuchen, aber erstmal ist das eine ganz plausible Erklärung und wir sehen in den Daten, dass diejenigen, die mehr Trainingszeit im Sport verbringen, auch häufiger von Gewalt im Sportverein betroffen sind. Das kann ein Effekt der Dauer des Aufenthaltes im Sportverein sein sind, es gibt aber darüber hinaus noch Faktoren, die das zusätzlich begünstigen können.

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Zum Beispiel?

Gerade im Leistungssport ist es so, dass ich als Athlet oder Athletin immer wieder über meine eigenen Grenzen gebracht werde. Das kann dazu führen, dass Gewalt normalisiert wird. Also, dass etwa Beschimpfungen und Bedrohungen akzeptiert werden, im schlimmsten Fall gar sexuelle Übergriffe ausgehalten werden. Gleichzeitig kann es sein, dass in solchen Settings der Zusammenhalt und die gegenseitige Abhängigkeit sehr groß ist. Also, dass die Strukturen dafür geeignet sind, Gewaltvorfälle zu verdecken.

Sehen Sie beim Missbrauch im Sport Parallelen zum Missbrauch in der katholischen Kirche, wo manchmal von einer Art Corpsgeist der Verschwiegenheit die Rede ist?

Ja, die sehe ich. Denn die Menschen in Sportvereinen und Verbänden stehen sich oft sehr nahe. Sie streben gemeinsam nach sportlichem Erfolg und identifizieren sich stark mit ihrem Team oder Verein. Das kann etwas sehr Bewegendes und Verbindendes sein. Die Abhängigkeiten sind groß, wenn es darum geht, dass der sportliche Erfolg am Ende stimmen muss, und da tut das Umfeld sehr viel dafür, dass negative Informationen nicht nach außen dringen. Niemand möchte das gefährden.

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