Die niedergeschossene 12-Jährige ist inzwischen wach und ansprechbar. Was bei dem Polizeieinsatz schieflief, sollte eine Sondersitzung im Landtag offenlegen.
Landtag NRWDramatische Details zum Polizei-Einsatz gegen eine Zwölfjährige in Bochum

Innenminister Reul will nun den Austausch mit Gehörlosen-Verbänden suchen.
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Die wichtigste Nachricht hatte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) am frühen Freitagmorgen ganz frisch aus der Klinik Bergmannsheil erhalten. Das zwölfjährige Mädchen, das bei einem aus dem Ruder gelaufenen Polizeieinsatz vor zehn Tagen in Bochum einen glatten Brustdurchschuss erlitten hatte, sei nach mehreren Notoperationen „wach und ansprechbar“.
Womöglich lässt sich also doch noch abschließend klären, was in der Nacht vom 16. auf den 17. November in einem Mehrfamilienhaus wirklich geschehen ist. Was bisher einigermaßen gesichert erscheint, haben Reul, Familienministerin Josefine Paul (Grüne) und Oberstaatsanwalt Benjamin Kluck in einer Sondersitzung des Innenausschusses im Landtag offengelegt.
Demnach handelt es sich beim Opfer um eine gehörlose Zwölfjährige, die in einer pädagogischen Wohngruppe in Münster lebt und nicht zum ersten Mal weggelaufen ist. „Mir wurde aus Münster allein in diesem Jahr von acht Fällen berichtet“, sagte Reul. Alle diese Vermisstenfälle hätten ohne Konflikte gelöst werden können.
Brustdurchschuss und Taser
Der Subtext dieser Information: Die Bochumer Polizei musste am 16. November davon ausgehen, dass sie wieder einmal bloß ein ausgebüxtes Kind einsammeln soll. Ein Routineeinsatz also. Die Münsteraner Einrichtung hatte die Zwölfjährige erneut als vermisst gemeldet und war in Sorge um deren Gesundheit, da das an Diabetes leidende Mädchen auf lebenswichtige Medikamente angewiesen ist. Die Betreuer vermuteten die Zwölfjährige bei der Mutter in Bochum. Ein Aufenthalt dort bis 21 Uhr sei von der Wohngruppe häufiger geduldet worden. Grundsätzlich sei aber mit dem Kind verabredet worden, dass es zum Abendbrot um 18 Uhr zurück in der offenen Wohngruppe in Münster zu sein habe, erklärte Familienministerin Paul. Warum diesmal schon um 17 Uhr die Polizei alarmiert und zu der Mutter geschickt wurde, blieb unklar.
Nachdem zunächst niemand geöffnet habe, hätten sich insgesamt vier Beamte gegen 0.30 Uhr mit Taschenlampen vor den Fenstern bemerkbar gemacht, so Oberstaatsanwalt Kluck. Eine Stunde später muss die Lage eskaliert sein. Noch bevor ein gerufener Schlüsseldienst vor Ort war, habe die Mutter die Wohnungstür geöffnet, „war aber – so der Bericht – nicht gerade kooperativ, um es behutsam zu formulieren“, erklärte Reul. Deshalb sei die Frau im Treppenhaus fixiert worden. Laut Staatsanwaltschaft muss sich die Zwölfjährige daraufhin mit ihrem 21-jährigen, ebenfalls gehörlosen Bruder in die Küche zurückgezogen haben. Durch die geschlossene Küchentür hätten Geräusche der Polizei Anlass zur Vermutung gegeben, dass das Kind in einer Schublade nach Messern gesucht habe.
Auch den Bruder mit Messern bedroht
Mit Messern habe das Mädchen zwischenzeitlich auch den Bruder bedroht. Die vier eingesetzten Polizisten sollen sich daraufhin zurückgezogen und vor der Wohnungstür im Treppenhaus postiert haben. Aus Neutralitätsgründen ermitteln die Staatsanwaltschaft Hagen und die Essener Polizei. Bisherige Erkenntnislage zum entscheidenden Moment: Als das Mädchen mit zwei großen Küchenmessern (12 bis 14 Zentimeter lange Klingen) in der linken Hand im Türrahmen erschienen sei, habe ein Beamter das Kind aus nur zwei Metern Entfernung mit einem Brustdurchschuss niedergestreckt. Praktisch zeitgleich habe ein Kollege die Pfeile eines Tasers abgefeuert. Da die Beamten von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen, geben viele Umstände zurzeit noch Rätsel auf.
SPD-Innenexpertin Christina Kampmann fragte, warum kein Gebärdendolmetscher oder Betreuer aus der Münsteraner Wohngruppe hinzugezogen worden seien. Reul wies darauf hin, dass es sehr wohl im Laufe des Abends zu einem Austausch per Videocall zwischen der Wohngruppe und der Mutter gekommen sei. Zudem habe wegen der Medikamente für das Kind zunehmend Zeitdruck geherrscht.
Gerüchte um abgestellten Strom
Kritisch hinterfragt wurde auch, ob es zur Deeskalation beigetragen habe, dass Gerüchten zufolge von der Polizei der Strom in der Wohnung der Familie abgestellt wurde. Gerade für Gehörlose in einer Stresssituation könne plötzliche Dunkelheit zusätzliche Orientierungslosigkeit bedeuten, hieß es. „Es gibt keinen Nachweis, dass das Licht ausgeschaltet war“, widersprach Reul. Das sei noch nicht ausermittelt.
Der Anwalt des Mädchens hatte zuletzt öffentlich beklagt, Polizei und Staatsanwaltschaft versuchten noch vor Abschluss der Ermittlungen, die aus seiner Sicht fragwürdige Darstellung zu stützen, der Beamte habe aus Notwehr geschossen.
Reul trat Spekulationen über einen leichtfertigen Schusswaffengebrauch aber grundsätzlich entgegen: „Die eingesetzten Polizistinnen und Polizisten, vor allem der Schütze, hätten sich einen ganz anderen Ausgang gewünscht.“

