Richterbund-NRW-Chef Gerd Hamme über Staatsanwälte im Stress und Probleme mit dem Cannabis-Gesetz. Die Überlastung der Justiz sieht er zudem als potenzielle Schwächung des demokratischen Rechtsstaates.
Richterbund-NRW-ChefIst die NRW-Justiz den Problemen gewachsen?

Will die NRW-Justiz stärken: Benjamin Limbachs Programm hat bislang nicht den gewünschten Erfolg gehabt.
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Umweltkriminalität, Clans, Cum-Ex: Die NRW-Politik lädt Staatsanwälten viel Arbeit auf. Zu viel, findet Prof. Gerd Hamme, Vorsitzender des Bundes der Richter und Staatsanwälte in NRW. Im Interview mit Matthias Korfmann spricht er über Ursachen, mögliche Lösungen und die politischen Folgen.
Herr Prof. Hamme, 2024 hat NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) ein Programm zur Stärkung der Staatsanwaltschaften vorgestellt. Hat sich die Lage zum Besseren verändert?
Die Maßnahmen waren nicht verkehrt, aber bei Weitem nicht ausreichend. Laut den jüngsten Zahlen aus dem Justizministerium zur Belastung in den Gerichten und Staatsanwaltschaften – Stand 30. Juni 2025 –müssen drei Staatsanwälte die Arbeit von vier Staatsanwälten erledigen. Es ist also keine Besserung eingetreten.
Woran liegt das?
Zum Teil an der Zunahme von Straftaten. Es gibt mehr Gewalt-, Sexual- und politisch motivierte Straftaten als früher. In den Staatsanwaltschaften ist die Personaldecke viel zu dünn. Nun liegt es am Gesetzgeber, im Haushalt genügend Geld bereitzustellen, um die Lücken zu schließen.
Geschieht das?
In den Staatsanwaltschaften sollen nächstes Jahr 60 zusätzliche Stellen geschaffen werden, 40 davon für Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. Zehn von diesen 40 sollen im Bereich Finanzkriminalität ermitteln, zehn bei Cum-Cum- und Cum-Ex-Straftaten, 20 sollen die Belastung in den Behörden lindern.
Wie weit kommt NRW damit?
NRW benötigt aktuell 1862 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. Planstellen gibt es nur für 1590. Tatsächlich arbeiten sogar nur 1475 in NRW. Das heißt, es fehlen nach wie vor etwa 400 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. 40 zusätzliche Stellen sind deshalb viel zu wenig.
Wozu führt die angespannte Personalsituation?
Leider hat die Zahl der Verfahren, die nicht bearbeitet werden konnten, in diesem Jahr in NRW einen neuen Höchststand erreicht. Das spielt vor allem jenen in die Karten, die nicht auf einem soliden demokratischen Fundament stehen. Die behaupten dann, dass bei uns das Recht nicht durchgesetzt werde und deshalb ein starker, autokratischer, Staat erforderlich sei. Ein demokratischer Rechtsstaat muss das Recht zeitnah durchsetzen, um sich selbst nicht zu gefährden.
NRW hat den Kampf gegen kriminelle Clans und Kindesmissbrauch intensiviert. Es gibt eine neue Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft für Umweltkriminalität. Wie beeinflusst das die Justiz?
Diese Schwerpunktsetzung ist Aufgabe der Politik. Sie führt zu neuen Ermittlungs- und Strafverfahren Die Justiz wird leider dabei von der Politik oft vergessen. Sie muss die polizeilichen Ermittlungen zeitnah abarbeiten können, denn nur schnelle Urteile sind gute Urteile. Deshalb sind auch die Ressourcen in der Justiz zu stärken.
Welche Herausforderungen sind für die Justiz mit der Einführung von KI verbunden?
Es ist sehr wichtig, dass die Justiz die Möglichkeiten von KI selbst auslotet und dabei auch die Gefahren im Auge behält. Rechtsprechung ist in einer Demokratie zwingend eine staatliche Aufgabe. Es besteht die Gefahr, dass private, kommerzielle Anbieter KI-basierte Streitschlichtung anbieten. Die Menschen werden sie nutzen, da sie auf diese Weise sehr schnell ein Schlichtungsangebot bekommen. Das ist jedoch bedenklich. Es bleibt dabei nämlich unklar, durch welche Algorithmen die KI entscheidet und es fehlt die demokratisch legitimierte, staatliche Kontrolle des Anbieters. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Justiz, auch in NRW, schnelle und transparente Gerichtsverfahren anbietet, die digitale Möglichkeiten und den Einsatz von KI integrieren, um das staatliche Rechtsprechungsmonopol zu schützen.
Cum-Cum- und Cum-Ex-Verfahren hängen in der Warteschleife. Der Ausstieg von Deutschlands bekanntester Cum-Ex-Ermittlerin, Anne Brorhilker, aus der Staatsanwaltschaft Köln hat Wellen geschlagen. Ist diese Staatsanwaltschaft so ausgestattet, um ihre Aufgabe bewältigen zu können?
Diese Staatsanwaltschaft ist sehr bemüht, gute Arbeit zu leisten. Es sind jedoch sehr viele Verfahren, die eine sehr umfangreiche Ermittlungsarbeit erfordern. Zudem besteht Zeitdruck, weil Verfolgungsverjährung droht. Wenn man sich am Jahresende für eine niedrige zweistellige Zahl abgeschlossener Verfahren feiert, aber eine vierstellige Zahl an Verfahren noch offen ist, dann ist das nicht gut. Der Staat könnte hier zudem über Vermögensabschöpfung enorme Einnahmen generieren. Der Schaden durch diese Finanzdelikte ist viel höher als der durch Sozialleistungsbetrug. Es müsste sich in Köln viel mehr Personal um diese Ermittlungen kümmern. Zehn Stellen sollen jetzt zusätzlich geschaffen werden, es müsste aber wohl eher eine dreistellige Zahl sein.
Inwieweit beschäftigt die Teil-Legalisierung von Cannabis noch die Justiz in NRW?
Die meisten Altverfahren sind inzwischen abgearbeitet, da ist der Druck raus. Gut ist, dass die Zahl der Betäubungsmittel-Straftaten mit dem Gesetz abgenommen hat. Aber leider ist das Gesetz handwerklich schlecht gemacht. Es gibt viele Anwendungsprobleme. Wenn Regeln so kompliziert sind, dass die Menschen sie nicht verstehen, werden sie nicht akzeptiert. Das tut dem Rechtsstaat nicht gut.
Zum Beispiel?
Stellen Sie sich einen Menschen vor, der in eine ihm nicht bekannte Stadt fährt und spontan auf der Straße einen Joint raucht. Er weiß aber nicht, dass zehn Meter weiter eine Kita und das Rauchen an dieser Stelle deshalb strafbar ist. Die Polizei muss einschätzen, ob der Mann das mit der Kita hätte wissen oder sehen können. Diese Kleinteiligkeit macht die Anwendung des Gesetzes so schwierig.