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Massaker vom 7. OktoberIsraels Landschaft der Erinnerung an der Gaza-Grenze

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Tel Aviv: Zwei Mädchen stehen an der Gedenkstätte am Dizengoff-Brunnen im Vorfeld des zweiten Jahrestages des Hamas-Anschlags vom 7. Oktober 2023.

Tel Aviv: Zwei Mädchen stehen an der Gedenkstätte am Dizengoff-Brunnen im Vorfeld des zweiten Jahrestages des Hamas-Anschlags vom 7. Oktober 2023.

Entlang der israelischen Gaza-Grenze haben sich die Schauplätze des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober 2023 zu einem weitläufigen Mahnmal entwickelt. Ein Rundgang durch ein Land, das noch immer um seine Deutung des „schwarzen Schabbats“ ringt.

Eine Bushaltestelle und ein begehbarer Betonwürfel: Entlang der israelischen Seite der Gazagrenze gibt es sie im Doppelpack. Die buntbemalten Schutzräume sollen im Fall von Raketenbeschuss aus Gaza Leben retten. Am 7. Oktober 2023 wurden sie zu Orten des Todes. Als Todesbunker erlangten sie traurige Berühmtheit, als Dutzende Besucher eines Musikfestivals in ihnen Zuflucht suchten, nur um von den Terroristen ermordet oder entführt zu werden.

Aufkleber mit Fotos und Namen von Ermordeten und Gefallenen, oft mit QR-Code für ihre persönliche Geschichte, verdecken die farbenfrohen Tier- und Blumenmotive auf den Bunkern. Im Inneren: mehr Aufkleber, Graffiti, Kerzen. Gedenktafeln erinnern an die Opfer. Immer wieder halten Autos vor den Sheltern – auch vor jenem, aus dem die vielleicht prominenteste von der Hamas ermordete Geisel, Hersch Goldberg-Polin, entführt wurde. Am Wegrand, aus dem kollektiven Gedenken hervorgehoben: kleine, individuell gestaltete Denkmäler für diese oder jenen Toten. Gelb angestrichene Autowracks mit der Forderung „Jetzt“ erinnern an das Schicksal der verbliebenen Geiseln.

Das Nova-Festival-Gelände wird zur Gedenkstätte

Etwa auf der Hälfte der nord-südlichen Ausdehnung des Gazagürtels, unweit des Kibbuz Re'im, liegt das Gelände des Nova-Festivals. Seine Besucher machten mehr als ein Drittel der Opfer des 7. Oktober 2023 aus. Hier hat das Gedenken einen institutionalisierten Charakter angenommen, auch wenn der Staat an der Nova-Stätte abwesend ist, wie bei den zahlreichen anderen Denkmälern entlang des Schlachtfelds vom 7. Oktober. Einheitliche Stelen haben improvisierte Gedenktafeln ersetzt, eine Hinweistafel untersagt eigenmächtige Privatinitiativen. Ein asphaltierter „Gedächtnispfad“ leitet den Besucher, während Parkplätze und Toiletten eine Infrastruktur bieten, die auch Reisegruppen gerecht wird. Längst wird die Stätte als Touristenattraktion auf Google-Maps geführt.

07.10.2024, Israel, Reim: Angehörige und Freunde trauern auf dem Gelände des Nova Festivals anlässlich des ersten Jahrestages des Hamas-Angriffs auf Israel.

07.10.2024, Israel, Reim: Angehörige und Freunde trauern auf dem Gelände des Nova Festivals anlässlich des ersten Jahrestages des Hamas-Angriffs auf Israel.

Internationale Besucher suchen Verstehen

„TV-Nachrichten haben nicht dieselbe Wirkung wie die Realität und können desensibilisieren“, sagt Keith Gardner. Der baptistische Pastor gehört zu einer Gruppe US-amerikanischer Christen auf Solidaritätsbesuch in Israel. Sie haben ihr Programm geändert, um die Orte des 7. Oktober zu sehen. „Zuhause hören wir die Opferzahlen. Hier sehen wir in ihre Gesichter." Zurück in North-Carolina will er seine Stimme als Geistlicher nutzen, anderen den Horror des schwarzen Schabbats emotional näherzubringen.

Die Tel Aviver Jüdin Hila ist dankbar für Besucher wie Keith. Es sei „unverständlich, wie es nach zwei Jahren immer noch Landsleute gibt, die nicht hier waren“, sagt sie. Der Besuch an den Orten entlang des Gazagürtels ist für sie Bürgerpflicht und sollte ins Curriculum weiterführender Schulen aufgenommen werden. Zusammen mit Arbeitskolleginnen zündet sie Seelenlichter unter einzelnen Stelen an. „Es fühlt sich an wie Treblinka, auch wenn ich noch nicht dort war“, sagt Hila. „Wir müssen nicht mehr nach Auschwitz fahren. Jetzt haben wir Nova", ergänzt eine der Kolleginnen.

Edens Garten – ein Bruder gedenkt seiner Schwester

Etwas abseits steht Aviv Naftali vor vier liebevoll gestalteten Quadratmetern. „Unser Garten ist der schönste“, beteuert er dem Vater am Telefon. Gartenbänke aus Metall zieren den Kunstrasen. Windspiele klingeln von einem Eukalyptus. „Teile die Liebe“, steht auf der Tafel neben dem Foto einer jungen, blondgelockten und braungebrannten Frau. Avivs Schwester Eden wurde hier umgebracht. Hier zu sein, fühle sich „absurd und irreal“ an, sagt der junge Mann in Uniform. Er versuche, „so wenig wie möglich“ herzukommen, es sei zu hart. Stattdessen dient er freiwillig als Reservist in der Armee, „als Therapie, absurd, oder?“ Zum zweiten Jahrestag des 7. Oktober aber werden sie mit Familie und Freunden auf den bunten Bänken vor dem Foto zusammenkommen.

Der Autofriedhof von Tkuma

Gedenkaufkleber machen die Informationstafel am Eingang des „Burnt vehicle compound“ in Tkuma, gut zehn Kilometer südöstlich, unlesbar. 1600 beim Hamasangriff beschädigte Autos wurden hier zusammengetragen, hunderte von ihnen bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Ursprünglich eine temporäre Lösung, um die Straßen für Sicherheitskräfte freizubekommen und die Suche und Identifizierung von Leichen an einem zentralen Ort zu erleichtern, hat sich der Autofriedhof zur Gedenkstätte verselbstständigt. Im Schatten auf Holzbänken lauschen israelische Besucher traurigen Heldengeschichten der Autobesitzer, vorgetragen von einem Reiseführer. Wer allein kommt, kann über QR-Codes die Geschichten im Netz nachlesen. Auch ein paar Autos der Terroristen stehen hier.

Sderot: Wo die Polizeistation zur heiligen Stätte wurde

Von der Polizeistation in Sderot, Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen des 7. Oktober, ist nichts übrig. Nach mehr als einem Tag dauernden Kämpfen walzten israelische Sicherheitskräfte den Bau platt, und in ihm die letzten Terroristen. 18 Steinstelen ragen dort jetzt in den Himmel. 18 steht in jüdischer Tradition für das Wort Leben. Eine Tafel wirbt um Spenden für die neue „heilige Stätte“. Ein Wandgemälde zeigt eine geöffnete Thora-Rolle, die über der alten Polizeistation schwebt. Hebräische Buchstaben steigen wie Rauch in den Himmel. Am Fest der Torah-Freude (Simchat Tora) habe Israel hier die Terroristen überwunden, habe das jüdische Volk bewiesen, dass es sich im Geist nicht brechen lasse, führt ein Rabbiner vor einer Klasse strengreligiös-jüdischer Teenager aus.

Blick auf den andauernden Krieg

Ultraorthodox sind auch die Besucher des Kobi-Hügels, des westlichen Aussichtspunkts Sderots, von dem aus sich der Gazastreifen im Nachmittagsdunst erahnen lässt. Für fünf Schekel lässt sich die brutale Realität des Krieges, die seit zwei Jahren jenseits der Grenzanlage anhält, mittels Fernglases noch näher holen. Eine Familie mit fünf Kindern und eine Gruppe männlicher Jugendlicher stehen Schlange für den Blick auf den Krieg, dessen Ende nun nach genau zwei Jahren in greifbare Nähe gerückt ist. Ihre Gefühle aber bleiben diesseits der Grenze, in einem Land im unbewältigten Schmerz und einer gespaltenen Gesellschaft, die um ihre Deutung des 7. Oktober noch ringt. (kna)