Ein Tag der Befreiung, der aber keineswegs allen Europäern Freiheit brachte: Prof. Andreas Wirsching vom Münchner Institut für Zeitgeschichte über den Umgang mit dem Gedenktag 8. Mai.
Prominenter Historiker zum 8.Mai„Es droht sich eine Art Kulturkampf zu entwickeln“

Am 7. Mai 1945 unterzeichnete der deutsche General Alfred Jodl (Mitte, rechts Admiral Hans-Georg von Friedeburg, links Major Wilhelm Oxenius) die deutsche Kapitulation in Reims, am 9. Mai wurde dies durch Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel gemeinsam mit Friedeburg und Generaloberst Hans-Jürgen Stumpff in Berlin-Karlshorst wiederholt. Jodl und Keitel wurden später in Nürnberg als Kriegsverbrecher hingerichtet.
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Vor 40 Jahren hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung gewürdigt – aber mit großen Einschränkungen und gewiss nicht als Tag, um sich an Siegesfeiern anderer zu beteiligen. Können wir heute feiern?
Die individuellen Erfahrungen und Erinnerungen sind in Bezug auf den 8. Mai 1945 stärker fragmentiert und zersplittert als bei jedem anderen Tag der deutschen Geschichte. Die meisten Deutschen fühlten sich damals eher selbst als Opfer des NS-Regimes und des Weltkriegs, als dass sie das Kriegsende als Befreiung betrachten konnten. Dominant war aber zweifellos das Empfinden der Erleichterung über das Schweigen der Waffen. Richard von Weizsäcker war dann der erste Bundespräsident, der in vollem Umfang der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gedachte. Für die überlebenden Opfer des NS-Regimes – darunter auch Deutsche – war der 8. Mai 1945 tatsächlich im rein physischen Sinne eine Befreiung. Für die große Mehrzahl der anderen war es ein Tag, der neue Freiheit überhaupt erst ermöglichte. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass der 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 und seiner Vorgeschichte getrennt werden kann. Beide Daten erinnern an deutsche Täterschaft und deutsche Massenverbrechen, und die Deutschen schafften es eben nicht, sich hiervon aus eigenen Kräften zu befreien. Darin, dass dies den Alliierten überlassen blieb, liegt auch aus deutscher Sicht der tiefere Sinn des 8. Mai, und das gehört zu jeder seiner Feier- und Gedenkstunden.
Nur wenige heute lebende Menschen haben NS-Zeit und Zweiten Weltkrieg noch bewusst erlebt. Woher dann die Virulenz mancher Debatte? „Vogelschiss“ oder Maximilian Krahs Ruf nach Stolz gegebenenfalls auch auf Waffen-SS-Männer. Warum zieht so etwas so viele Menschen an?

Prof. Andreas Wirsching leitet das Institut für Zeitgeschichte in München und ist Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
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Solche Stimmen sind ein Zeichen für das alte, aber fortbestehende Bedürfnis, die deutsche Geschichte vom Nationalsozialismus zu reinigen. Als historisches Faktum lässt sich der Holocaust auch aus rechtsextremer Sicht heute kaum mehr leugnen. Will man daher zu einem ungebrochenen, völkisch grundierten Nationalismus zurückkehren, dann muss man die deutsche Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust entkoppeln. Das ist schon immer das Ziel der extremen Rechten gewesen, das uns nun in neuer Form begegnet. Im Falle Maximilian Krahs kommt noch der Versuch hinzu, damit neue, scheinbar „harte“ Männlichkeit zu konstruieren.
Offensichtlich ist ein substanzieller Teil der Bevölkerung von der seit Jahrzehnten intensiv praktizierten historisch-politischen Bildung – und dazu gehören ja auch die vielen NS-Gedenkstätten und -Dokumentationen – nicht mehr erreichbar.
Würden Sie sagen, mit solchem Geschichtsrevisionismus kommt etwas wieder, was wir eigentlich überwunden hatten – oder war es einfach immer da, egal, wie wir uns bei historischer und politischer Bildungsarbeit angestrengt haben?
Meines Erachtens ist der 8. Mai zu keinem Zeitpunkt von allen Deutschen als gleichsam „glatter“ Tag der Befreiung akzeptiert worden. Allerdings erleben wir in letzter Zeit, wie sich mit dem Erstarken des Rechtsextremismus auch die Spaltung der Erinnerungskultur weiter vertieft. Es droht sich eine Art Kulturkampf zu entwickeln. Offensichtlich ist ein substanzieller Teil der Bevölkerung von der seit Jahrzehnten intensiv praktizierten historisch-politischen Bildung – und dazu gehören ja auch die vielen NS-Gedenkstätten und -Dokumentationen – nicht mehr erreichbar.
Wie könnte eine angemessene Form des Gedenkens aussehen – an Kriegsende, Sturz der NS-Diktatur, Befreiung der Konzentrationslager, aber auch an Flucht, Vertreibung, stalinistische Gewaltherrschaft?
Der Aspekt der Befreiung vom nationalsozialistischen Gewaltregime muss heute und künftig eine zentrale Rolle spielen. Aber dieser Grundgedanke muss auch integriert werden in eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem komplexen Geschehen selbst. Dies geht nur in Form eines Gedenktages, der Raum lässt für die ganze Bandbreite der Ereignisse und Erfahrungen und zugleich auch für die Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen selbst.
Die gemeinsame Kommemoration des Kriegsendes ist daher mit Regierungsvertretern des heutigen Russlands nicht möglich, und die Versuche dazu sind höchst kritikwürdig.
Bei der Feier zur Erinnerung an die Schlacht auf den Seelower Höhen bei Berlin erschien der russische Botschafter mit dem Georgsband, Bekenntnis zu jener russischen Armee, die heute in der Ukraine mordet. Ist da ein gemeinsames Gedenken überhaupt noch möglich?
Putins Propaganda stellt den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine als Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs und des Kampfes gegen den Nazismus dar. Damit instrumentalisiert Russland die Erinnerung an den 8. Mai 1945 für seine eigenen ideologischen Zwecke. Die gemeinsame Kommemoration des Kriegsendes ist daher mit Regierungsvertretern des heutigen Russlands nicht möglich, und die Versuche dazu sind höchst kritikwürdig. Angemessen ließe sich dagegen mit Vertretern exilrussischer Kreise und mit Ukrainern der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus gedenken.
Immerhin, es war die Rote Armee, die gegen Kriegsende die NS-Vernichtungslager im Osten befreite. Warum haben eigentlich die Westalliierten in den Monaten und Jahren davor nicht mehr – wenn überhaupt etwas – versucht, um gegen den Holocaust vorzugehen?
Das ist eine wichtige Frage, umso mehr, als Briten und Amerikaner schon seit 1942 von dem Massenmord an den Juden wussten. Wiederholte Bitten, etwa die Infrastruktur des Vernichtungslagers Auschwitz zu bombardieren, lehnten sie jedoch ab. Zum einen waren sie mehrheitlich der Auffassung, dass ein Bombardement technisch schwierig sei, zumal man vermeiden wollte, jüdische Opfer zu töten. Zum anderen war das rückblickend fragwürdige Argument zentral, alle militärischen Kräfte müssten gebündelt werden, um die Wehrmacht zu besiegen.
Ein bloßer moralischer Appell an den „Frieden“ führt also nicht weiter, sondern kann sogar gefährlich werden. Allerdings werden sich die europäischen Gesellschaften erst langsam daran gewöhnen können, militärisch wehrhaft oder sogar „kriegstüchtig“ werden zu müssen.
Heute ist viel von „sinnlosen“ Kriegen die Rede, etwa gegenüber der sich verteidigenden Ukraine. Und die Gegenseite verweist auf den Zweiten Weltkrieg als siegreichen Kampf gegen eine aggressive Diktatur und darauf, dass es ja auch 1939 im Westen Parolen wie die gab, man solle nicht für Danzig sterben. Führen solche Vergleiche weiter?
Geschichte wiederholt sich nicht, und einfache Parallelen lassen sich nicht ziehen. Und schon gar nicht vermag der Blick in die Geschichte konkrete politische Handlungsanweisungen zu geben. Trotzdem ist es eine unumstößliche historische Erfahrung, dass gewalttätige Diktatoren nicht durch Nachgeben zu besänftigen sind. Alles spricht leider dafür, dass dies auch bei Putin der Fall ist. Ein bloßer moralischer Appell an den „Frieden“ führt also nicht weiter, sondern kann sogar gefährlich werden. Allerdings werden sich die europäischen Gesellschaften erst langsam daran gewöhnen können, militärisch wehrhaft oder sogar „kriegstüchtig“ werden zu müssen. Aber vielleicht ist auch das eine interessante Analogie zu den 1930er Jahren: Denn die früher viel kritisierte britische Appeasementpolitik gegenüber Hitler erlaubte es auch, Zeit zu gewinnen und der nationalsozialistischen Kriegsfurie ab 1940 standzuhalten.
In vielen Ländern des ehemaligen sowjetischen Herrschaftsbereichs ist die Teilung Europas nach 1945, ist „Jalta“ ein Trauma. Warum haben die westlichen Alliierten Stalin eigentlich so große Zugeständnisse gemacht – in Jalta und danach? Die Sowjetunion war doch intensiv auf westliche Unterstützung angewiesen.
Zum Zeitpunkt der Konferenz von Jalta, im Februar 1945, waren beide Seiten noch aufeinander angewiesen. Insbesondere der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt war auch bereit, Stalin weit entgegenzukommen. Aber Stalin konnte seine Maximalziele damals nicht durchsetzen, weder im Hinblick auf das Ausmaß einer Aufteilung Deutschlands noch der Westverschiebung Polens. Das ändert aber natürlich nichts daran, dass „Jalta“ bis heute symbolisch steht für die Teilung Deutschlands und Europas.
In den letzten Kriegswochen stand die US-Armee in Sachsen und in Teilen der damaligen Tschechoslowakei, dann zog sie sich zurück. War den Menschen klar, was diese Übergabe an russische Besatzung bedeuten würde?
Der Rückzug der US-Armee fand im Juli 1945 statt, Gerüchte hierüber gab es seit Anfang Juni. Der Rückzug war allerdings längst zuvor vereinbart worden. Er ging zurück auf das Londoner Protokoll vom September 1944, das die Grenzen der alliierten Besatzungszonen festlegte. Thüringen und Sachsen gehörten demzufolge zur Sowjetischen Besatzungszone. Die dortige Bevölkerung reagierte auf die aufkommenden Gerüchte über den Wechsel der Besatzung mit großer Unruhe, Sorge und erneuten Fluchtbewegungen nach Westen. Allerdings verhielten sich die einrückenden sowjetischen Soldaten überwiegend korrekt.
Wenn man heute auf Wladimir Putin blickt, dann kann man den Eindruck haben, dass er gewaltsam versucht, die Versprechen von Jalta wieder einzulösen. Können Sie als Historiker ihn da ein bisschen verstehen?
Ich denke, Putins Ziele orientieren sich eher an den Grenzen der alten Sowjetunion, dies aber in klarer Frontstellung gegen die Nato und ganz allgemein gegen den „Westen“. Im Grunde seit 2014, definitiv aber seit dem Februar 2022 hat Putin die seit 1990 geltende internationale Ordnung zerstört und damit große Gefahren heraufbeschworen. Als Begründung muss das Narrativ der angeblichen westlich-amerikanischen Aggression gegen das „Opfer“ Russland herhalten. De facto aber handelt es sich um eine ideologische Neugeburt des russischen Nationalismus. Radikaler, aggressiver Nationalismus und Selbstviktimisierung sind Geschwister. Von „Verständnis“ für Putin kann also keine Rede sein.