Im Interview erklärt er, warum Polen mit der Ankündigung zum Abschuss richtig liegt, weshalb Deutschland bei der Wehrpflicht-Debatte nicht zögern sollte und wieso AfD und BSW eine „psychopathologische“ Rolle spielen.
Lettlands Ex-Präsident Levits„Russland testet uns mit Drohnen – Europa muss Grenzen aufzeigen“

Egils Levits, damaliger Staatspräsident von Lettland, bei einer Gedenkveranstaltung am Volkstrauertag in Berlin 2022
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Vor vier Jahren hat Egils Levits als lettischer Staatspräsident bereits vor einer „gewissen Blauäugigkeit manch europäischer Staaten gegenüber Moskau“ gewarnt. Mit dem Krieg gegen die Ukraine hat sich Levits Mahnung kurze Zeit später bestätigt. Thomas Ludwig sprach mit dem inzwischen aus dem Amt geschiedenen 70-Jährige über die aktuelle Lage.
Herr Levits, noch gibt es Menschen, die zweifeln, dass sich Wladimir Putin tatsächlich militärisch mit der hochgerüsteten Nato anlegen könnte. Was sagen Sie?
Europa ist mit seiner Demokratie und dem liberalen Lebensstil eine ideologische Bedrohung für das aggressive, imperialistische russische Regime. Für Russland ist das eine ideologische Systemkonfrontation mit dem Westen. Deshalb versucht Russland mit allen hybriden Mitteln, die öffentliche Meinung in den freiheitlichen Demokratien in seinem Sinne zu verändern und Europa zu dominieren. Mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine sind bei den meisten Regierungen und in großen Teilen der Bevölkerung Europas alle naiven Illusionen verflogen. Sie sehen ganz realistisch, wozu Moskau willens und fähig ist.
Hat man die richtigen Lehren gezogen?
Ja, man hat daraus die richtigen Lehren gezogen, nämlich mehr in die eigene Sicherheit zu investieren. Sonst ist ein militärisch schwaches Europa eine leichte Beute für Russland. Wenn die Nato und insbesondere die europäischen Nato-Staaten genügend militärische Fähigkeiten haben, um sich erfolgreich verteidigen zu können, wird Russland nicht weiter angreifen, denn es will bei einem Angriff nicht verlieren. In die eigene Verteidigung zu investieren, ist bei einem aggressiven Russland deshalb das Mittel, Frieden zu erhalten. Aber es gibt immer noch einige, die die Realität nicht wahrhaben wollen.
Hierzulande bedienen vor allem AfD und BSW die Narrative Moskaus ...
Die Blauäugigkeit früher Zeit war eher einer gewissen Bequemlichkeit geschuldet. Die Ignoranz solcher Parteien wie AfD oder BSW und vieler ihrer Anhänger geht aber weit darüber hinaus. Sie schätzen die Gefahr durch Russland nicht richtig ein und machen erhebliche Verrenkungen, um nicht sehen zu wollen, was doch so klar zu sehen ist. Dieses Vertauschen von Opfer- und Täterrolle hat schon etwas Psychopathologisches, es ist eine völlige Verdrehung der Tatsachen.
Wie bewerten Sie die jüngsten Drohnen-Vorfälle und andere Luftraumverletzungen über Polen und den baltischen Staaten?
Das sind Testprovokationen – und zwar in zwei Richtungen. Die erste betrifft die militärische Fähigkeit der Nato, solche Drohnen abzuwehren oder abzuschießen. Man konnte sehen: Die Nato ist dazu mehr oder weniger fähig, aber es gibt Lücken. Die zweite ist ein politischer Test: Wie reagiert die politische Öffentlichkeit? Lässt sie das einfach zu oder regt sich Widerstand? Ich finde, Europa hat darauf gut reagiert – man schließt nicht die Augen, sondern macht sich daran, die Sicherheitslücken an der Ostflanke zu schließen. Das müsste Russland zu denken geben.
Polen hat angekündigt, russische Kampfjets abzuschießen, sollten sie den Luftraum des Landes noch einmal verletzen. Würden Sie soweit gehen?
Diese Warnung auszugeben, halte ich für angemessen und richtig. So weiß man in Moskau, worauf man sich unter Umständen einlässt. Es ist besser, einem Aggressor die Grenzen früher als später aufzuzeigen. Präsident Putin kennt also die Risiken.
Hierzulande ist die Rechtslage zum Abschuss von Drohen extrem komplex. Handelt Deutschland zu langsam?
Drohnen sind eine relativ neue Waffe, die sich in kürzester Zeit zu einer echten militärischen Bedrohung entwickelt hat. Die Rechtslage ist aber vielerorts noch die Alte. Deshalb ist es nur logisch, dass man sie anpasst und entsprechende Voraussetzungen für die Bekämpfung feindlicher oder unbekannter Drohnen schafft.
Gehört dazu auch die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland?
Der Schritt ist richtig. Er trägt den geopolitischen Erfordernissen Rechnung. Ich verstehe aber auch, dass es darüber eine Debatte in der Gesellschaft gibt. In einer Demokratie können Sie das nicht einfach über die Köpfe der Menschen hinweg machen. Es ist jedoch der Auftrag von demokratischen Parteien, die Bürger von der Richtigkeit bestimmter Maßnahmen zu überzeugen. Auch in meiner lettischen Heimat haben wir die Welt einmal für friedliebender gehalten und die Wehrpflicht abgeschafft. Aber Politik muss sich an der Realität orientieren und die Realität ist heute eine andere als vor 20 Jahren. Deshalb hat Lettland die Wehrpflicht wieder reaktiviert.
Halten Sie es für möglich, dass die russische Wirtschaft infolge des Krieges doch früher oder später zusammenbricht?
Die Kriegswirtschaft funktioniert eigenständig, abgekoppelt von der zivilen Wirtschaft. Der Krieg verbraucht aber unglaublich viele Ressourcen. Deshalb dürfte es für Moskau immer schwieriger werden, ihn sehr lange durchzuhalten. Das ökonomische Potenzial Russlands ist im Vergleich zum Potenzial Europas um ein Vielfaches kleiner. Es gibt also durchaus objektive Grenzen für Russland – wenngleich ein autoritäres Regime natürlich auf andere Methoden zurückgreifen kann, um wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu begegnen. Man kann sich deshalb nicht darauf verlassen, dass Russland schon bald wirtschaftlich in die Knie geht. Längerfristig kann man das aber auch nicht ausschließen. Autokratische Staaten erscheinen lange Zeit stabil, aber dann fallen sie plötzlich in sich zusammen. Das SED-Regime beispielsweise feierte im Oktober 1989 noch unbeirrt das 40-jährige Jubiläum der DDR-Staatsgründung. Heute wissen wir: Das Regime war am Ende.