Seit der Grenzöffnung 1989 besuchte die Rundschau regelmäßig das thüringische Dorf Wahlhausen. In der ehemaligen Sperrzone lebten vor der Wende rund 200, heute sind es etwa 300 Menschen. Begegnung mit bekannten und neuen Gesichtern – sogar aus Köln.
Wahlhausen in ThüringenDie Einheit im Kleinen ohne Ossi-Wessi-Ding

Die thüringische Grenzgemeinde Wahlhausen im Herbst 2025 mit neuen Straßen, schmucken FachwerkHäusern und der restaurierten Kirche.Foto: Horst Zbierski
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Wenn sich am 3. Oktober der Tag der Deutschen Einheit zum 35. Mal jährt, wird im ehemaligen DDR-Grenzort Wahlhausen an der thüringisch-hessischen Grenze gefeiert – allerdings etwas anderes: Die alljährliche Kirmes steht an, mit Gottesdienst, Tanz auf dem Saal, wie es hier heißt, und einem Ständchen-Zug durchs Dorf. Das hat hier jahrzehntelange Tradition und, wie alte Bilder verraten, es war so ziemlich jedes Mitglied der eingesessenen Familien aus dem Dorf irgendwann in die Vorbereitungen involviert. Dennoch ist die Einheit und der lange Weg dorthin nicht vergessen, im Gegenteil.

Die Grenze verlief bis 1989 direkt am Werraufer entlang, Häuser und Kirche drohten zu verfallen.
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Die Erinnerung an die Zeit, als die 200-Seelen-Gemeinde Wahlhausen an der Werra in der 500-Meter-Sperrzone lag, die schwer bewachte und abgeriegelte innerdeutsche Grenze am Dorfrand und durch den Fluss verlief, als Menschen dennoch flohen und auch starben, ist immer noch lebendig. Sie beschäftigt die Menschen, die hier oder in der Nähe geblieben sind, weil es die Geschichten ihres Lebens und ihrer Familien sind. Und die sind gespickt mit hochemotionalen Ereignissen – bis heute. Frank Rode war 26, als sich am 18.11.1989 um sechs Uhr die neue Welt, die am gegenüberliegenden Flussufer begann, öffnete. Vorangegangen waren Montagsdemonstrationen, nicht nur in den großen Städten der DDR. Auch die Wahlhäuser versammelten sich Ende Oktober 1989 in der Bezirksstadt Heiligenstadt, um gegen das Eingesperrt sein und die SED zu demonstrieren.

Heute erinnert eine große Tafel an die frühere innerdeutsche Grenze und Teilung.
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Ich dachte beim Blick von der anderen Seite: Wir leben in einem KZ.
Der ehemalige Bürgermeister und Ortschronist Horst Zbierski erinnert sich daran, dass er 1987 wegen des Geburtstages eines Onkels ins hessische Bad Hersfeld reisen durfte und auf dem Rückweg von der westdeutschen Werraseite auf Wahlhausen blickte. Dem77-Jährigen, der nach der Wende für sein Dorf viel bewegen sollte, verschlägt es auch nach so vielen Jahren noch fast die Sprache: „Ich dachte beim Blick von der anderen Seite: Wir leben in einem KZ.“

Horst Zbierski war nach der Wende der erste Bürgermeister und setzte sich vor allem für die Restaurierung der Kirche ein.
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Ein Dorf irgendwo in der heutigen Mitte Deutschlands, ein Dorf im Nirgendwo, selbst für DDR-Bürger nur vier mal im Jahr mit besonderem Passierschein erreichbar, vielen wohl nicht mal bekannt, weil die SED es auf DDR-Karten gar nicht verzeichnete – zu groß die Angst, jemand könnte „rübermachen“. Wahlhausen wurde schon 1952 abgeriegelt, hatte eine Grenzkompanie-Kaserne (heute steht dort ein Altenheim) und eine LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft), um das Dorf herum gab es die mit Stacheldraht, verzinkten Zäune und mit Grenzsoldaten gesichterte Grenze.
Nach dem Mauerfall am 9. November 1989 dauerte es in Wahlhausen noch neun Tage, bis sich diese Grenzanlagen öffneten. Dort, wo heute ein Grenzstein und ein Schild an die alte Teilung erinnern, und nebenan ein Campingplatz bis ans Ufer der Werra reicht, standen die Menschen aus dem westdeutschen, nur zwei Kilometer entfernten Nachbarort Bad Sooden-Allendorf und nahmen die Wahlhäuser in Empfang.
Gänsehautmoment im Grenzmuseum
Vielleicht war es auch eher umgekehrt. Sowohl Rode als auch Zbierski erinnern sich, dass ihr Dorf mit seiner baufälligen vierhundert Jahre alten Barock-Kirche, die bis 1949 Patronatskirche der Rennfahrer-Familie Hanstein gewesen war, mit tausenden Menschen geflutet wurde. „Alle lagen sich in den Armen und wir haben mit unserer Kapelle ,Nun betet an die Macht der Liebe' gespielt“, erinnert sich Rode.

Lebendige Erinnerung: Der Wahlhäuser Frank Rode erkennt sich auf einem Foto im Grenzmuseum wieder.
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Mehr als ein Gänsehautmoment – nachzuspüren im Grenzmuseum, das drei Kilometer oberhalb von Wahlhausen liegt. Dort gibt es ein Video, das unter anderem das Spiel der Blaskapelle festgehalten hat. Frank Rode sieht die Ausschnitte und ringt um Fassung. Auch, und damit hat er nicht gerechnet, weil seine inzwischen verstorbene Mutter in dem Film zu Wort kommt und an genau diesen Moment des Wiedersehens erinnert. „Da hatten sogar die Grenzsoldaten Tränen in den Augen“, erinnert sich Elsbeth Rode. Und Sohn Frank kämpft vor dem Bildschirm ebenfalls damit. Sich selbst und seine eigene Familie in einem solchen Kontext in einem Museum wiederzufinden, ist höchst emotionale Vergangenheitsbewältigung.
Rode hat in Wahlhausen die Höhen und Tiefen der Wende erlebt. Aufbruchstimmung, Abstiegsangst, Aufarbeitung, Wiederaufbau und so viele Fragen: Wer hat was gewusst, wer war Freund, wer war Spitzel? Vier Jahre führte er einen Imbiss, dann einen Supermarkt im Ort, der sich aufgrund der Preise in den Discountern nicht halten ließ, schließlich wurde er Fahrdienstleiter in einer Klinik im benachbarten Bad-Sooden. In der Corona-Zeit leitete er den Krisenstab der Klinik, berichtet er. Doch dann musste die Klinik Insolvenz anmelden. Rode, der auch Betriebsratsvorsitzender war, kämpft seither für sich und seine ehemaligen Kollegen um Gelder und neue Konzepte.
Der Stress der vergangenen Jahre hat Spuren hinterlassen. Nach Herzproblemen in diesem Sommer muss der inzwischen 62-Jährige nun erstmal selbst wieder gesund werden. „Ich warte noch auf eine Reha“, sagt er. Nach dem für ihn ungeplanten Besuch mit der Rundschau im Grenzmuseum, in dem er einige Jahre nicht mehr war und in dem sich nach viel ehrenamtlichem Engagement nun vieles professionalisiert und verändert hat, will er sich dort vielleicht noch mal einbringen: „Mich beschäftigt vor allem: Wie kann man die Geschichte den Besuchern realistischer vermitteln? Dazu gehören Relikte aus dieser Zeit. Vielleicht wird das eine neue Aufgabe für mich.“
Großbrand und Neuanfang
Hinfallen, wieder aufstehen, Dinge in die Hand nehmen: Das klingt nicht nur nach Rodes Lebensmotto. Das Schicksal des 1868 gegründeten Handwerkbetriebs Gastrock lässt sich ähnlich zusammenfassen. Die Unternehmerfamilie, die weltweit Wanderstöcke und orthopädische Gehhilfen vertreibt und in Wahlhausen beheimatet ist, musste nach wechselvoller Geschichte dies- und jenseits der Grenze, unter anderem spektakulärer Flucht durch die Werra 1952, im vergangenen Jahr wieder fast von vorne anfangen. Nach der Corona-Zeit, in der Kurzarbeit angesagt war, brummte das Geschäft. „Wir hatten im ersten Quartal 2024 so viel Umsatz wie zuvor in zwei Quartalen“, erzählen Peter und Sara Gastrock, die das Familienunternehmen mit ihren Eltern führen.

Wiederaufbau im Jahr 2025: Nach einem Großbrand im April 2024 bauen Peter und Sara Gastrock die gleichnamige Traditionsfirma für Wanderstöcke in Wahlhausen wieder auf.
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Doch dann macht am 30. April 2024 um 8.36 Uhr eine Feuerexplosion in der Produktion den Aufschwung zunichte. Späneabsauganlage, Holzverarbeitung, Büroräume – alles steht in Flammen und brennt nieder. Für Wahlhausen ist das im wahrsten Sinne ein rabenschwarzer Tag. 26 Feuerwehren, Katastrophenschutz und Technisches Hilfswerk sind in dem kleinen Ort im Einsatz, zwei Tage dauert es, bis der Einsatz beendet ist, zurück bleiben Löschschaum und verkohlte Hallen. Für Hans Gastrock ist ein Lebenswerk zerstört, doch seine Kinder wollen sich nicht geschlagen geben: „Wir haben nicht lange überlegt. Die Firma ist ein Herzensding. Wir bauen sie wieder auf.“
Sechs Wochen nach dem Brand gehen aus einem provisorischen Versandlager wieder erste Bestellungen raus. Seither ist das Gelände Baustelle – auch wegen vieler behördlicher Hürden. Doch die Gastrocks sind optimistisch: „Wir wollen am 30.4. 2026 wieder eröffnen.“
Ein anderes Revival würden sich manche Touristen wünschen: Pias Radlerrast. Die 65-jährige Pia Krebs, ursprünglich im Eichsfeld in der Nähe aufgewachsen, im März 1989 aus der DDR geflüchtet und an den Niederrhein gezogen, kehrte in den 1990er Jahren mit ihrem Essener Ehemann in den Osten zurück, nach Wahlhausen. Jahrelang restaurierten sie ein altes Fachwerkhaus, das an der Werra liegt und dessen hintere Hauswand an den Grenzzaun reichte, und machten daraus eine Raststätte für Radfahrer.

Früher Grenzzaun, heute idyllischer Blick auf die Werra : Pia Krebs mit Hund Ruby in der Radlerrast.
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„Ein Traumplätzchen“ nennt die gelernte Erzieherin und Hobby-Gastwirtin ihr Haus und ihren Garten mit den kleinen Sitzecken und Terrassen zur Werra. Nicht allen im Ort waren sie und ihr Mann willkommen, so rekapituliert sie es. Doch für Dorf-Besucher schaffte sie einen kleinen Anziehungspunkt, denn andere Lokalitäten gibt es nicht mehr. Ihr Mann stirbt 2022, die Radlerrast bleibt geschlossen, doch sie kämpft sich ins Leben zurück, will auf jeden Fall in Wahlhausen bleiben. „Vielleicht mache ich im nächsten Jahr noch mal auf“, sagt sie, die es mit ihrem Eichsfelder Feldgieker-Teller (selbstgebackenes Sauerteigbrot und Schmand) zu kurzer lokaler Berühmtheit geschafft hat.
Den Bürgermeister des Dorfes, Steffen Großheim von der freien Wählergemeinschaft, würde das freuen. Der vor einigen Jahren neu angelegte Radweg werde sehr stark frequentiert. Die Zusammenarbeit mit dem Tourismusverband und dem Naturpark Werratal laufe gut. Geplant ist laut Großheim als nächstes auch ein neuer Kanuanleger unterhalb der Kirche, die dank des Einsatzes von Zbierski und vielen anderen im Dorf und mit Hilfe von Spenden ein wunderbar restauriertes Kleinod geworden ist.
Kölner Paar voll integriert
Zum Freundeskreis der Kirche gehören Elke und Dieter Gleisner, die lebendiger Beweis sind, dass in dieser kleinsten Einheit Wahlhausen eine besondere Art von Integration funktioniert. Die Gleisners sind gebürtige Kölner. „2008 hat es uns mit vier Motorrädern, einem Wohnwagen und einem Auto nach Wahlhausen verschlagen“, lachen die beiden. Sie waren auf der Suche nach einer Bleibe, wo sie die Gefährte unterbringen und von wo aus sie mit ebendiesen reisen konnten. In Wahlhausen wurden sie fündig, leben in einem Haus mit Ställen, aus denen sie Garagen machen konnten. „Wir wurden mit offenen Armen empfangen“, sagen sie. Sie mischen im Fasching mit, auch wenn die Helaurufe für sie gewöhnungsbedürftig waren. „Aber für uns gibt es immer ein Elke und Dieter – Alaaf!“

Aus Köln nach Wahlhausen: Dieter und Elke Gleisner fühlen sich in der Dorfgemeinschaft sehr wohl.
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Natürlich sind sie bei der anstehenden Kirmes mit dabei. Kirmesmädel und Kirmesbursche waren sie schon, heißt, sie haben das Fest mehrfach mit organisiert. „Natürlich kennen wir die Geschichten, dass es hier auch Stasi gab“, sagen sie. Es klingt ein bisschen nach alten Kamellen. Wer ohne DDR-Vorgeschichte ist, hat es da leichter.

Steffen Großheim, Bürgermeister von Wahlhausen, setzt auf den Ausbau der Versorgungs- und Infrastruktur.
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In Wahlhausen gibt es keine Parteien, nur die freie Wählergemeinschaft. Die AfD wird deshalb kaum thematisiert. Außer, um zu betonen, dass sie hier nicht so verfängt wie in anderen Landesteilen. Das Landtagswahlergebnis 2024 bestätigt die Wahrnehmung: Wahlhausen hatte mit 19,9 Prozent die zweitniedrigste AfD-Quote (hinter Schachtebich, ebenfalls Kreis Eichsfeld: 19,4 Prozent).
Steffen Großheim betont, dass es im Dorf keine Berührungsängste oder „dieses Ossi-Wessi-Ding“ gebe. Mit kommunalen und Landesmitteln wird gerade das alte Strom- und Abwassernetz auf den neuesten Stand gebracht. Dank guter Gewerbesteuereinnahmen, Vollbeschäftigung, der Nähe zum Kurort Bad Sooden und der landschaftlichen Reize ist für den 2006 hierher gezogenen ehrenamtlichen Bürgermeister Wahlhausen genau der richtige Fleck. „Gott hat die Erde geküsst und es war hier“, sagt er schmunzelnd. Wenngleich ihm bewusst ist, dass das mit Blick auf die Schicksale vieler Familien hier sicher nicht in allen Zeiten galt.