Ritzen, Verbrennen, VerätzenWarum sich so viele Jugendliche selbst verletzen und was Eltern tun können

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Eine Jugendliche steht gedankenversunken am Fenster.

Körperliche Schmerzen durch Verletzungen können vorübergehend seelische Schmerzen lindern.

Jugendliche, die sich selbst verletzen, sind keine Seltenheit. 25 bis 35 Prozent sind davon betroffen. Wie Eltern ihnen helfen können.

Blessuren oder Narben, die sich nicht erklären lassen, viel Zeit im Bad oder im eigenen Zimmer, eine dort gefundene Rasierklinge oder ein Messer, lange Kleidung trotz Hitze: Hier läuten bei vielen Eltern von Jugendlichen die Alarmglocken. Zu Recht, denn das können Warnsignale für selbstverletzendes Verhalten sein. Was genau das ist, was dahinterstecken kann, wie Eltern sich verhalten können und wo Familien Hilfe finden.

Was ist selbstverletzendes Verhalten?

Es wird unterschieden zwischen suizidalem und nicht suizidalem selbstverletzendem Verhalten. Bei letzterem tun sich die Betroffenen weh, wollen aber nicht sterben. „Darunter fällt unter anderem Ritzen, Schneiden, Verbrennen oder sich schlagen“, erklärt Gloria Fischer-Waldschmidt. Sie ist leitende Psychologin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Psychosozialen Zentrum des Uniklinikums Heidelberg.

In Deutschland sind 25 bis 35 Prozent aller Jugendlichen mindestens einmal davon betroffen. „Etwa 15 Prozent der 15-Jährigen verletzen sich unseren Stichproben unter Jugendlichen zufolge häufiger als einmal selbst.“

Was steckt hinter selbstverletzendem Verhalten?

Selbstverletzendes Verhalten gilt nicht als eigenes Krankheitsbild, sondern kann, muss aber nicht Symptom einer anderen Erkrankung wie Depression, Persönlichkeitsentwicklungsstörung oder Angststörung sein. In jedem Fall bedeutet es, dass die Betroffenen sehr verzweifelt sind, wie Fischer-Waldschmidt betont. Das Ritzen, Schneiden oder Verbrennen ist der Versuch, mit schwierigen Gefühlen oder Situationen umzugehen. „Das selbstverletzende Verhalten verschafft Erleichterung, nimmt vorübergehend den Druck, verdrängt negative Gefühle“, erklärt Fischer-Waldschmidt. Bei manchen Jugendlichen stecke auch das Gefühl innerer Leere dahinter. „Bevor sie gar nichts spüren, spüren sie lieber Schmerz.“

Wie können Eltern sich verhalten?

Für Eltern ist es ein Schock, wenn sie merken, dass ihr Kind sich selbst verletzt. Sie sind traurig, wütend, fühlen sich schuldig. „All diese Gefühle dürfen natürlich auch eine Rolle spielen, aber zunächst am besten im Austausch mit dem Partner oder der Partnerin oder unter Freunden“, rät Fischer-Waldschmidt.

Im Umgang mit dem Kind rät sie, ruhig zu bleiben und verlässliche Ansprechpartnerin oder -partner zu sein. Besonders in den ersten Gesprächen sei wichtig, den Fokus auf die Gefühle des Kindes zu legen. Respektvoll nachfragen, signalisieren: „Ich habe dich lieb und will für dich sorgen, ich will dir helfen.“ Und vor allem: zuhören.

Seda Sözeri ist Sozialpädagogin und Beraterin bei der Nummer gegen Kummer, eine Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern aus ganz Deutschland. Sie weiß: Eltern müssen auch geduldig sein. „Selbstverletzendes Verhalten ist nichts, was innerhalb von wenigen Wochen wieder verschwindet.“

Wie können Eltern ihrem Kind helfen?

Wichtig ist, dass Eltern mit gutem Beispiel vorangehen und ihre eigenen Gefühle regulieren, erklärt Fischer-Waldschmidt. Heißt zum Beispiel: nicht herumschreien, nicht hysterisch werden, sondern einen anderen Weg für sich finden, mit schwierigen Situationen umzugehen. Sie sollten sich Zeit für ihr Kind nehmen und eine vertrauensvolle, stabile Beziehung aufbauen und pflegen. Eltern können anbieten, gemeinsam Hilfe zu suchen. Und sie können vielleicht sogar mit dem Kind nach Bewältigungsstrategien zu suchen, bei denen man sich nicht verletzt. Fischer-Waldschmidt rät zu Sport, Musik hören oder auch Salben zu verwenden, die auf der Haut brennen.

Beraterin Sözeri ergänzt: In Notsituationen könne es zum Beispiel auch helfen, auf eine Chili-Schote zu beißen, sich mit einem Igelball zu massieren, in ein Kissen zu boxen, Eiswürfel in den Mund nehmen oder in die Schuhe stecken. Besser sei es natürlich, die Frühwarnsignale zu kennen und zeitiger gegenzusteuern – da seien aber eher nicht die Eltern gefragt. „Das lernt man in der Therapie“, erklärt Sözeri.

Was sollten Eltern sein lassen?

Druck aufbauen, Vorwürfe machen oder panisch werden. Damit ist niemandem geholfen – im Gegenteil, das kann die Situation sogar verschlimmern. So schwer es auch ist: „Eltern sollten das selbstverletzende Verhalten nicht auf sich beziehen, nicht persönlich nehmen“, rät Sözeri. Wenn das Kind mauert, können Mütter oder Väter es mit einem Brief versuchen. Oder es gibt eine andere nahestehende Person, die das Gespräch mit dem Kind suchen kann. Ansonsten sollten Eltern es akzeptieren, dass das Kind nicht darüber sprechen möchte, aber weiterhin Hilfsbereitschaft und respektvolle Neugierde signalisieren.

Wo finden betroffene Familien Hilfe?

Es gibt viele Anlaufstellen, an die Betroffene selbst und deren Angehörige sich wenden können: der sozial-psychiatrische Dienst, niedergelassene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, psychiatrische Ambulanzen von Krankenhäusern oder örtliche Beratungsstellen für Kinder- und Jugendliche und Familien.

Auch telefonisch und online gibt es viele Angebote: zum Beispiel die Telefonseelsorge, die Nummer gegen Kummer oder von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke). Außerdem gibt es spezielle Foren und Webseiten die sich an Jugendliche, die sich selbst verletzen und deren Angehörige richten: das Kontakt- und Informationsforum Rote Linien unter www.rotelinien.de und das Forum Rote Tränen mit verschiedenen Gruppen zum Austausch unter www.forum.rotetraenen.de. (dpa)

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