Volkskrankheit ÜbergewichtLeverkusenerin verliert durch Schlauchmagen-OP 80 Kilo

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Adipositas ist eine Krankheit und keine Willensfrage. 

  • Am 3. Mai hat die WHO den europäischen Adipositas-Report vorgestellt, laut dem 59 Prozent der Erwachsenen und eins von drei Kindern schwer übergewichtig sind.
  • Die Studie zeigt: Schon vor der Corona-Pandemie war Adipositas eine Volkskrankheit. Das Risiko daran zu erkranken, ist seitdem aber angestiegen.
  • Vielen Betroffenen hilft eine Magenverkleinerung samt begleitender Therapie. Die Leverkusener Influencerin Joana N. hat damit 80 Kilo innerhalb von 12 Monaten verloren.

Leverkusen – Wenn Joana N.* in den Spiegel schaut, sieht sie darin nur selten noch die 159 Kilo schwere Frau, die sie vor einem Jahr war. Dank einer Magenverkleinerung und der begleitenden Therapie hat sich die 34-jährige Leverkusenerin innerhalb von zwölf Monaten von 80 Kilogramm verabschiedet. 77 wiegt sie heute. Zu diesem Gewicht zu kommen und dabei zu bleiben, ist und bleibt nicht leicht, erzählt sie uns.

Die Chronik der purzelnden Pfunde hat sie auf Instagram verewigt. „Als Art Kontrollinstrument, um beim Abnehmen am Ball zu bleiben“ hat sie an jedem Donnerstag, ihrem Wiege-Tag, ihr aktuelles Gewicht publik gemacht. Zehn Menschen verfolgten das zu Beginn, heute ist „Frau.Mutivation“, wie ihr Kanal heißt, eine Influencerin in Sachen Adipositas. Etwas mehr als 24.000 Follower informieren sich dort über krankhaftes Übergewicht, Schlauchmagen-OPs, Voraussetzungen und Speisepläne. Oder lassen sich motivieren: „Ich habe vor der OP und der Therapie selbst nicht an das Leben in einem normalgewichtigen Körper geglaubt. Ich möchte meinen Followern Mut machen: Ihr schafft das auch! Und ich will deutlich machen, wie zerstörend die Adipositas-Klischees sein können.“

Von wegen adipöse Menschen sind selbst schuld

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Joana N. mit sechs Jahren.

Joana N. (Leidens-)Geschichte begann in ihrer Kindheit. „Seit ich denken kann, war ich übergewichtig und ausgegrenzt“, sagt sie. Als Ärzte im Jahr 2004, Joana war gerade 16 Jahre alt und 92 Kilo schwer, einen Lymphdrüsenkrebs „Morbus Hodgkin“ diagnostizieren, beginnt mit der zermürbenden Krebstherapie auch die krankhafte Gewichtszunahme.

Alles zum Thema Robert Koch-Institut

WHO hat Adipositas als Krankheit anerkannt

„Selbst innerhalb der Ärzteschaft wird Adipositas sehr weit verbreitet als Zeichen einer selbst verschuldeten Disziplinlosigkeit betrachtet, und nicht als das, was es ist: eine chronische Erkrankung“, sagt Karl Peter Rheinwalt, Chefarzt des Adipositas-Zentrums im St. Franziskus-Hospital Köln.

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Prof. Karl Peter Rheinwalt.

Dabei ist Adipositas seit 22 Jahren von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als eine Krankheit anerkannt, die alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen betrifft und die sehr viele unterschiedliche Ursachen haben kann. Laut WHO-Definition ist dann von krankhaftem Übergewicht die Rede, wenn der Body-Mass-Index (BMI) über 30 kg/m² liegt.

Krebstherapie trieb Gewicht in die Höhe

Nach zwei Jahren Chemotherapie, Bestrahlung und hohen Kortison-Dosen ist Joana N. mit 19 Jahren vom Krebs geheilt, nicht aber vom Übergewicht: Die Wage zeigt 120 Kilo, die Selbstwahrnehmung etwas anderes: „Ich war traumatisiert von der Therapie, meine Haare fielen aus, ich habe alle Spiegel abgehängt, den Bezug zu meinem Körper verloren und nicht gesehen, wie dick ich war.“ Die Ausbildung zur Friseurin muss sie abbrechen, eine Umschulung zur Bürokauffrau auch. Denn ihr Gewicht, inzwischen 133 Kilo, liegt schwer auf ihrem Alltag.

2014 wird sie, 28, schwanger, verliert in der elften Woche das Kind. Dass sie ihr Leben ändern muss, realisiert Joana N. erst, als sie erneut schwanger wird. Die Ärzte erklären ihr, dass auch diese eine Risikoschwangerschaft sei. Sie muss sechs Monate im Klinikum Leverkusen liegen und bringt das Kind in der 39. Schwangerschaftswoche per Kaiserschnitt zur Welt. Sie wiegt inzwischen 159 Kilo, Gartenstühle brechen unter ihr zusammen, ihr Gewicht erdrückt auch die Beziehung zu ihrer Tochter, der sie nicht hinterher laufen, nicht mit ihr spielen, und auch sonst wenig bieten kann.

Joana N. sucht Hilfe und findet sie im April 2021 im Adipositas-Zentrum Leverkusen. Dort wird zunächst ihr BMI errechnet. „Mit einem Wert von 49,7 kam eine Schlauchmagen-Operation zwar in Frage, aber frühestens in sechs Monaten und nur unter der Voraussetzung, bis dahin das MMK-Vorprogramm absolviert zu haben.“ MMK steht für „Multimodales Konzept“ und kombiniert Elemente der Bewegungs-, Ernährungs-, und Verhaltenstherapie.

Adipositas: Infos und Hilfe in der Region

Anzahl der Betroffenen

Laut Robert-Koch-Institut (RKI) waren in Deutschland vor Beginn der Corona-Pandemie 23 Prozent aller Erwachsenen (rund 17 Millionen) und 6 bis 8 Prozent aller Kinder und Jugendlichen (rund 800.000) krankhaft übergewichtig, sprich: adipös. Erste Untersuchungen zeigen, dass seitdem der Anteil übergewichtiger Kinder um 40 Prozent gestiegen ist.

Volkskrankheit Adipositas

Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat 2010 gemeinsam mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Studie „Fit not Fat“ zu Fettleibigkeit und Prävention veröffentlicht. Sie zeigt: Übergewicht hat in den OECD-Ländern das alarmierende Ausmaß einer Volkskrankheit angenommen, heute ist jeder zweite Erwachsene übergewichtig und jeder fünfte adipös. Die Wirtschaft und der Staat der jeweiligen Länder haben maßgeblich zur Entstehung dieser „Epidemie“ beigetragen.

Forderungen an die Politik

Experten wie Oliver Huizinga von der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) fordern, dass die Versorgungslücken der Adipositas-Therapie geschlossen und eine gesicherte Finanzierung gewährleistet ist. Zudem sollte die an Kinder gerichtete Werbung beschränkt, eine verbraucherfreundliche Lebensmittel-Kennzeichnung in Ampelfarben eingeführt werden ebenso sowie Mindeststandards für das Essen in der Gemeinschaftsverpflegung und eine veränderte Lebensmittelbesteuerung. Die WHO empfiehlt die Einführung einer Abgabe auf Zuckergetränke und die Subventionierung von Gemüse und Obst mit Hilfe einer Streichung der Mehrwertsteuer für diese Lebensmittel. 

Hilfe in der Region

Adipositas-Zentrum Leverkusen: Klinikum Leverkusen, Iris Klein, Am Gesundheitspark 11, 51375 Leverkusen, iris.klein@klinikum-lev.de, 0214 13 4556 Leverkusen

Adipositas-Zentrum Köln: St. Franziskus-Hospital, Bettina Surray, Schönsteinstr. 63, 50825 Köln, bettina.surray@cellitinnen.de, Adipositas-Sprechstunde: 0221 5591-1050, adipositaschirurgie.kh-franziskus@cellitinnen.de

Adipositas-Kompetenzzentrum, Kliniken der Stadt Köln gGmbH, Petra Kirsch, Ostmerheimer Str. 200, 51109 Köln, kirschp@kliniken-koeln.de, 0179 137 3406

Adipositas Selbsthilfe Köln: Jeden 1. und 2. Montag (Austausch unter Betroffenen) und jeden 1. Dienstag (Kostenübernahme-Antrag für eine bariatrische OP) im Monat, jeweils ab 19 Uhr; Ansprechpartnerin: Christel Scharfenort, 0178 4746580

Übersicht über Fachzentren bundesweit:

http://www.zusammen-gegen-adipositas.de/

Infos: Deutsche Adipositas Gesellschaft e.V. (DAG)

https://adipositas-gesellschaft.de/

Joana N.: „Erst war ich frustriert, ab einem BMI von 50 hätte ich nur drei Monate auf die OP warten müssen. Heute sage ich: Das MMK sollte prinzipiell zwölf Monate dauern, damit es im Kopf wirklich Klick macht, und man nach der OP darauf vorbereitet ist, dass auch ein verkleinerter Magen sich wieder dehnen kann.“

Adipositas-Therapie ist keine Regelleistung 

Hinzukommt, dass das MMK auch eine Voraussetzung für die Kostenübernahme der Krankenkasse für eine Magenverkleinerung ist, die Selbstzahler rund 8000 Euro kostet und meist individuell beantragt werden muss. Joana N. kennt die Geschichten von Followern, die sich in der Türkei günstig operieren ließen, erfolglos, weil die begleitende Therapie fehlte.

Medizinisch in Betracht kommt eine Magenverkleinerung oder Bypass-OP, „nur für Personen in Frage, die einen BMI über 35 haben, der durch konservative Methoden nicht gesenkt werden konnte, und bei denen Folgeerkrankungen vorliegen wie etwa Diabetes, Bluthochdruck, Fettwechselstörungen oder Mobilitätsstörungen,“ sagt Rheinwalt, und betont, dass eine solche Operation nie allein sondern nur in Kombination mit drei weiteren Therapiebausteinen erfolgsversprechend sei.

So wird der Magen verkleinert

Bei der Schlauchmagen-OP werden laut Rheinwalt etwa 80 Prozent des Magens entfernt, darunter der Teil, der das „Hunger-Hormon“ Ghrelin bildet. Es regt den Appetit an, signalisiert dem Gehirn: Es ist Zeit zum Essen und fördert die Fettspeicherung. Der Restmagen bleibt in einer Art Schlauch- oder Sleeve-, also Ärmel-Form zurück. „Bei einer Bypass-OP wird vom Magen nichts entfernt, er wird in zwei Teile geteilt und der untere Teil quasi stillgelegt“, sagt Rheinwalt. 

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OP hin oder her: Magenoperierte müssen für immer ihren Lebensstil ändern, hochdosierte Vitamine zu sich nehmen, und die Blutwerte regelmäßig kontrollieren lassen. Bis zur Operation im Oktober 2021 durchläuft Joana N. ein siebenmonatiges MMK-Programm, samt psychologischem Gutachten, diversen ärztlichen Attesten, Ernährungstraining, individueller Verhaltensberatung und viel Sport. „Trotzdem war die erste Zeit nach der OP eine emotionale Achterbahnfahrt. 

Der Weg zu mehr Lebensqualität ist auch nach der OP kein Selbstläufer

Sechs Wochen hat es gedauert, bis sich Kopf und Kochverhalten umgestellt haben, während die Pfunde purzelten, von 159 auf 99 Kilo. „Es ist schwer für die Familie zu kochen, wenn man selbst nur vier Teelöffel essen darf und das Gefühl hat, man wird nie mehr mit Genuss essen können.“ Worauf „Frau.Mutivation“ stets hinweist: Der Weg zu mehr Lebensqualität ist auch nach der OP kein Selbstläufer. Rund ein Drittel der Betroffenen nimmt innerhalb von fünf Jahren wieder zu, weil alte Gewohnheiten Oberhand gewinnen. Diesen Rückfall will Joana N. unbedingt vermeiden und hat auch deshalb mit anorektischen Störungen zu kämpfen, die sie versucht, mit psychologischer Unterstützung in den Griff zu bekommen. „Was aber überwiegt, ist das Gefühl, zum ersten Mal im Leben frei, agil, aktiv und ja: auch sexy zu sein.“

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