Forscher zu Fehldiagnosen„Ganz generell liegen Ärzte bei rund zehn Prozent aller Diagnosen daneben“

Lesezeit 6 Minuten
Ein Arzt liest den Lungen-Scan auf einem digitalen Tablet-Bildschirm.

Fehldiagnosen liegen unterschiedliche Ursachen zugrunde.

Drei Krankheitsgruppen werden besonders oft falsch diagnostiziert: Gefäßerkrankungen, Infektionskrankheiten und Krebserkrankungen. Was Patienten tun können.

„Ganz generell liegen Ärzte bei rund zehn Prozent aller Diagnosen daneben“, sagt Wolf Hautz. Er ist leitender Arzt an der Universitätsklinik für Notfallmedizin des Inselspitals in Bern und forscht zu Fehldiagnosen. Hautz ist der Meinung, dass das Thema Fehldiagnosen in Medizin und Öffentlichkeit zu wenig beachtet wird. Im Gespräch erklärt er deshalb, wie Fehldiagnosen entstehen, was helfen kann, sie zu reduzieren und was man als Patient tun kann, wenn man eine ärztliche Diagnose erhält.

Wolf Hautz, leitender Arzt am Universitätsspital in Bern und Fehldiagnoseforscher.

Wolf Hautz, leitender Arzt am Universitätsspital in Bern und Fehldiagnoseforscher.

Herr Hautz, wie entstehen Fehldiagnosen?

Wolf Hautz: Wie entstehen sie nicht? Sie entstehen in aller Regel nicht dadurch, dass den Ärzten relevantes Wissen fehlt. Wodurch sie allerdings entstehen: Wenn Patienten sich mit einem Problem vorstellen, haben Ärzte sehr schnell, also innerhalb der ersten zwei bis drei Minuten, eine Liste von fünf bis acht Sachen im Kopf, die es potenziell sein könnten.

Alles zum Thema Long Covid

Und diese Liste ist entscheidend, denn was dann passiert, ist, dass sie anfangen, diese Hypothesen spezifisch zu testen und ihre Untersuchungen dahingehend auszurichten. Und es passiert ganz selten, dass diese Liste später noch einmal länger wird oder etwas Neues dazu kommt. Also: Fehldiagnosen entstehen häufig dadurch, dass Ärzte sich zu früh festlegen.

Fehldiagnosen durch rasche Meinungsbildung und Zeitmangel

Liegt die rasche Meinungsbildung der Ärzte am Zeitmangel?

Definitiv. Zeitdruck führt nicht zu besseren Diagnosen. Und was auch nicht zu besseren Diagnosen führt, sind häufige Unterbrechungen. Das ist beim Hausarzt vielleicht noch weniger ein Problem, aber in der Notaufnahme durchaus, wo sehr viele Erstdiagnosen gestellt werden. Ständig klingelt das Telefon, ständig kommt irgendjemand, und hält einem noch etwas unter die Nase – alle 45 Sekunden im statistischen Mittel. Das heißt, man kann sich 45 Sekunden auf etwas konzentrieren und dann kommt schon wieder das Nächste.

Es hat auch etwas mit der Hierarchie von Ärzten zu tun: wenn der Patient vom Radiologen mit einer gewissen Diagnose zurückkommt, dann wird der Hausarzt diese mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht anzweifeln.

Das klingt so, als wären Fehldiagnosen unvermeidbar?

Was ist denn eigentlich eine Fehldiagnose? Was man allgemein darunter versteht, ist erstmal folgendes: Sie haben Krankheit A und irgendjemand hat aber Krankheit B draufgeschrieben. Da würde die Forschung sagen, das ist ein Label-Fehler, also das Problem wurde falsch benannt.

Dann gibt es klassische Prozess-Fehler, ein Beispiel: Eine junge, sportliche, schlanke Frau kommt zum Hausarzt mit Brustschmerzen. Dieser führt die Schmerzen auf das gestrige Fitnesstraining zurück, diagnostiziert sie als muskuläres Problem und schickt sie wieder nach Hause. Mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit hat er damit auch recht, weil das in dem Alter und der Konstitution der jungen Frau das Wahrscheinlichste ist.

Aber er hat kein EKG gemacht – und jetzt sind sich Mediziner einig: Erwachsene mit Brustschmerzen kriegen ein EKG. Also gibt es einen Prozess-Fehler.

Haben Sie ein Beispiel für einen Label-Fehler?

Covid war anfangs häufig ein Label-Fehler. Schon im September 2019 gab es ganz viele Fälle von viralen Lungenentzündungen in der italienischen Region Lombardei. Und die erste Covid-Diagnose ist im Dezember 2019 in Italien gestellt worden. Im Nachhinein können wir dazu sagen, dass das alles Label-Fehler waren, denn es waren nicht nur Lungenentzündungen, sondern Covid-19. Zudem konnten wir damals noch nicht auf Corona testen – konnten also nicht bestimmen, wer Covid-19 hatte und wer nicht.

So ähnlich ist das auch mit Long Covid aktuell. Das ist bis dato eine Erkrankung, die wir noch nicht ganz verstanden haben. Und wahrscheinlich produzieren wir da im Moment unheimlich viele Label-Fehler in die eine wie in die andere Richtung – wir nennen Sachen Long Covid, die es später dann nicht mehr sind und andersrum. Aber bis wir eine richtige Methode haben, um beweisen und sagen zu können, „das ist definitiv Long Covid und das nicht“, wird es noch ein paar Jahre dauern.

Sind Fehldiagnosen also vielleicht sogar entschuldbar?

Absolut. Ich denke, dass auch nicht jede Fehldiagnose zu einer falschen Therapie führt – das ist ja letztlich der Zweck einer Diagnose, dass ich eine Therapie und eine Prognose abgeben kann.

Die häufigsten Fehldiagnosen gibt es bei drei Krankheitsgruppen

In welchem Bereich kommen Fehldiagnosen am häufigsten vor und welche Erkrankungen werden am häufigsten fehldiagnostiziert?

Die Notfallmedizin ist extrem gefährdet, weil wir eine hohe Schlagzahl an unterschiedlichen Erkrankungen haben – daher ist es sehr wahrscheinlich, dass Sachen nicht erkannt werden. Die meisten Fehldiagnosen werden bei drei Krankheitsgruppen gestellt– Gefäßerkrankungen (Schlaganfall, Herzinfarkt, Thrombose), Infektionskrankheiten (Coronavirus, Grippe, Magen-Darm-Infekt) und Krebserkrankungen.

Krebs stellt dabei ein besonders Problem dar, weil Krebs viel seltener ist als die beiden anderen Erkrankungsgruppen – aber Krebs fehlzudiagnostizieren, hat für den Patienten viel größere Konsequenzen.

Was könnte die diagnostische Genauigkeit verbessern?

Was gut funktioniert ist Teamwork – die kniffligen Fälle mit Kollegen durchzusprechen oder die betreffenden Patienten zu zweit zu sehen.

Was auch gut funktioniert, ist eine Methode aus einer Studie der Erasmus Universität Rotterdam. Dabei wird ein ganz strukturierter Prozess vorgeschlagen: Es gilt, als Arzt systematisch zu überprüfen, welche der verfügbaren Befunde der eigenen Hypothese widersprechen, welche diese stützen und welche vorhanden sein müssten, wenn die eigene Annahme zutrifft, bei dem Patienten aber fehlen.

Außerdem gibt es Computerprogramme, die mit künstlicher Intelligenz (KI) arbeiten und die Ärzte darin unterstützen, Diagnosen zu stellen. Von diesen gibt es aber bisher keinen Nachweis darüber, was sie für einen Effekt haben. Bei diesen Programmen ist generell Vorsicht geboten, es wird allzu schnell behauptet, sie wären unglaublich effizient und effektiv.

Apropos KI: Jochen Werner, Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Essen sagte kürzlich in einer Podiumsdiskussion, dass die Maschine das Stethoskop ersetzen wird. Wer diagnostiziert Ihrer Meinung nach besser: Mensch oder Maschine?

Menschen, ganz klar. Ich glaube, das zeugt von ganz großer Unkenntnis davon, wie KIs im medizinischen Bereich funktionieren und eingesetzt werden. Es gibt schon KIs, die Röntgenbilder analysieren und dann versuchen, einen Befund zu machen. Allerdings prognostizieren die Menschen, die sich damit beschäftigen, dass noch mindestens drei Jahrzehnte vergehen, bis eine KI Diagnosen produzieren kann.

Um bei dem Beispiel Röntgenbild zu bleiben: Ein Röntgenbild ist ein hoch strukturierter Datensatz, aber die KI kann daraus bisher nur feststellen: Der Patient hat Corona oder nicht. Frage ich als Arzt aber spezifischer nach, also, dass meine Frage nicht mit Ja oder Nein beantwortet werden kann, kommt die KI an ihre bisherige Grenze. Frage ich also: Warum kriegt der Patient denn so schlecht Luft? Und die KI antwortet nur mit „Ja“, dann ist das keine Antwort, mit der ich arbeiten kann.

Ärztliche Fehldiagnose: Das können Patienten tun

Was kann man als Patient tun, wenn man eine Diagnose erhält?

Wenn man zum Arzt geht, und dieser eine Diagnose stellt, kann man nachhaken und fragen: „Mal angenommen, das ist es nicht, was könnte es denn noch sein?“ Damit stößt man den Reflexionsprozess des Arztes an, und bringt diesen dazu, noch einmal über seine Verdachtsdiagnose nachzudenken.

Das Zweite, was ich empfehlen würde, ist: Freundlich zu seinem Arzt zu sein und sich dankbar für die Hilfe zeigen. Eine weitere Studie der Erasmus Universität Rotterdam hat gezeigt, dass Menschen, die nett zu ihrem behandelnden Arzt sind, häufiger richtig diagnostiziert werden.

Rundschau abonnieren