ME/CFS-Patienten werden von Ärzten oft nicht ernst genommen. Anders bei dem Kölner Mediziner Volker Brenn, der erklärt, was es mit der Krankheit auf sich hat.
Kölner Arzt über wenig erforschte Krankheit ME/CFS„Es ist zu befürchten, dass wir längst über eine Million Betroffene haben“

Betroffene von ME/CFS sind oft tagelang unter Schmerzen ans Bett gefesselt. (Symbolbild)
Copyright: Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e.V.
Der Kölner Arzt Dr. Volker Brenn leitet ein medizinisches Versorgungszentrum, in dem ME/CFS ernst genommen wird. Er erklärt, was über die Krankheit bekannt ist – und was nicht.
Von wie vielen ME/CFS-Betroffenen in Deutschland gehen Sie aus?
Die Kassenärztliche Vereinigung schätzt die Zahl nach der Pandemie auf rund 620.000. Aus meiner Sicht ist diese Zahl jedoch deutlich zu niedrig angesetzt. Die Dunkelziffer dürfte erheblich sein. Es ist zu befürchten, dass wir längst über eine Million Betroffene haben.
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Von welchen Symptomen berichten Patientinnen und Patienten?
Patienten berichten vorrangig über eine ausgeprägte körperliche und geistige Erschöpfung, nicht erholsamen Schlaf, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie über die sogenannte„ post-exertional malaise“ – eine deutliche Verschlechterung nach geringster Anstrengung. Häufig kommen autonome und neurologische Symptome hinzu. In besonders schweren Verlaufsformen sind Patienten – oft junge Menschen, teils auch Kinder und Jugendliche – über Monate oder Jahre vollständig bettlägerig und in ihrem Alltag massiv eingeschränkt.
Auf welchem Stand ist die Forschung?
Im Jahr 1969 wurde ME/CFS als eigenständige Krankheitsentität klassifiziert. Dennoch blieb die Pathophysiologie (Anm. d. Red.: Lehre der Entstehung von Krankheiten) weitgehend unklar. Erst mit der COVID-19-Pandemie geriet das Thema erneut in den Fokus der Forschung – und das mit großer Dringlichkeit. Denn viele Patienten entwickelten nach zunächst mild verlaufender Infektion eine Phase scheinbarer Genesung, auf die Wochen später schwerwiegende Symptome folgten. Dieses sogenannte Post-COVID-Syndrom äußert sich häufig durch neurologische Beschwerden, die dem seit Jahrzehnten bekannten ME/CFS auffallend ähnelt.
Damit ergab sich erstmals eine größere Patientengruppe, bei der man die Krankheitsentstehung ab einem klar definierbaren Zeitpunkt prospektiv untersuchen konnte. Diese Beobachtungen führten zu einem regelrechten Forschungsimpuls. Insbesondere die Arbeitsgruppe um Frau Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen an der Berliner Charité konnte in den vergangenen Jahren wichtige Fortschritte erzielen. Eine zentrale Hypothese ist, dass Autoantikörper gegen bestimmte Rezeptoren der Signalübertragung im autonomen Nervensystem die neuronale Kommunikation stören. Die Symptome könnten somit als Ausdruck einer gestörten neuroimmunologischen Regulation verstanden werden.
Dennoch ist Zurückhaltung geboten: Die Forschung steckt weiterhin in einem frühen Stadium. Die grundlegende Frage, warum bestimmte Menschen nach viralen Infekten – sei es Epstein-Barr, Influenza oder nun auch SARS-CoV-2 – ein chronisches Syndrom entwickeln, ist noch nicht abschließend geklärt. Was wir jedoch heute mit größerer Sicherheit sagen können als je zuvor: ME/CFS ist eine schwerwiegende, biologisch begründbare Erkrankung – und keine psychosomatische Modeerscheinung.
Wie unterscheidet sich ME/CFS von Long Covid?
Der Begriff Long COVID wird häufig unscharf verwendet und muss klar vom Post-COVID-Syndrom unterschieden werden. Long COVID bezeichnet per Definition eine fortbestehende oder protrahiert verlaufende Symptomatik im Anschluss an eine akute SARS-CoV-2-Infektion – häufig mit Beteiligung der Atemwege, der Atemmuskulatur oder allgemeiner Erschöpfung. Es handelt sich hierbei um eine verlängerte Rekonvaleszenz, bei der die Symptome der akuten Erkrankung nicht vollständig abklingen. Im Gegensatz dazu steht das Post-COVID-Syndrom, bei dem nach einer zunächst leichten COVID-Erkrankung mit vollständiger Genesung ein zeitlich versetzter Symptombeginn auftritt – oft mehrere Wochen später.
Diese Patienten entwickeln plötzlich schwerwiegende neurologische Beschwerden, autonome Dysregulationen, kognitive Einbußen und insbesondere die typische Belastungsintoleranz (PEM), wie man sie seit Jahrzehnten bei ME/CFS-Patienten kennt. Im Prinzip unterscheiden sich die beiden Krankheitsentitäten kaum, ganz im Gegenteil, es kann auch von einem postviralen Syndrom gesprochen werden. Nicht nur Covid, sondern auch andere Viren oder atypische neurotoxische Bakterien, können ein solches Syndrom auslösen, welches entweder sehr der ME / CFS Erkrankung ähnelt, bzw. in diese übergeht.
Warum kennen offenbar nur wenige Mediziner ME/CFS ?
Die mangelnde Vertrautheit vieler Ärzte mit ME/CFS hat mehrere Ursachen. ME/CFS war über Jahrzehnte hinweg ein medizinisches Randthema, das in den klassischen Curricula von Studium und Facharztausbildung kaum vorkam. Es fehlten belastbare Biomarker, das Krankheitsbild war schwer einzuordnen, und die Symptome wirkten diffus – was dazu führte, dass Patienten häufig in psychosomatische Schubladen gesteckt wurden. Zudem ist es eine unbequeme Erkrankung: Sie widerspricht gängigen Vorstellungen von Krankheit, Heilung und Selbstverantwortung. Patienten, die über Jahre schwer krank, arbeitsunfähig und zugleich medizinisch nicht „greifbar“ sind, bringen viele Ärzte an die Grenze ihres Verständnisses – und leider allzu oft auch ihrer Geduld.
Warum ist das bei Ihnen anders?
Ich habe mich intensiv mit ME/CFS beschäftigt, weil ich in meiner Praxis immer wieder mit Patienten konfrontiert wurde, die trotz schwerer Symptome keine Diagnose und keine Hilfe erhielten. Viele dieser Menschen waren medizinisch aufgegeben, oft als psychosomatisch fehlgedeutet, obwohl die klinischen Muster eindeutig und reproduzierbar waren. Die Kombination aus persönlicher Erfahrung mit diesen Patienten, der offensichtlichen Versorgungslücke und meiner grundsätzlichen Skepsis gegenüber allzu einfachen Erklärungen hat mich dazu gebracht, mich tief in die Literatur, internationale Forschung und auch den Austausch mit Betroffenen und spezialisierten Kollegen einzuarbeiten. Gerade bei einer Erkrankung wie ME/CFS, die jahrzehntelang übersehen wurde, ist eigenständige, kritische Auseinandersetzung mit dem Stand der Wissenschaft unerlässlich.
Welche Behandlungen gibt es?
Leider gibt es bislang keine ursächliche, zielgerichtete Behandlung für ME/CFS. Es werden multimodale Ansätze verfolgt: Unterstützung der Mitochondrienfunktion sowie des Nervensystems durch Vitamine, Aminosäuren und Antioxidantien, teils auch physikalische Therapien. Verfahren wie die Apherese – das Auswaschen möglicher Autoantikörper – wurden erprobt, konnten sich aber bislang nicht etablieren. Immunmodulierende Medikamente sind in Entwicklung, doch eine wirksame Therapie ist derzeit nicht in Sicht.
Eine Methode wie das Intervall-Hypoxie-Hyperoxie-Training, deren Wirkmechanismus auf die Mitochondrien zielt und deren wissenschaftliche Bedeutung mit dem Medizin-Nobelpreis 2019 gewürdigt wurde, ist vielversprechend, aber noch nicht breit anerkannt. Die Kosten solcher multimodalen Therapien werden zudem von den gesetzlichen und auch den meisten privaten Krankenkassen meist nicht übernommen.