Februar 1945Ausgebombte Kölner erlebten bei Evakuierung eine Katastrophe

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Polnische Forensiker unterstützen den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei der Suche nach zivilen Opfern.

Polnische Forensiker unterstützen den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei der Suche nach zivilen Opfern.

Köln – Mehr als 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges kann oft nur noch der Zufall helfen, um Schicksale aufzuklären. Umso mehr, wenn es um Opfer von Flucht und Vertreibung geht, deren Sterben in den letzten chaotischen Kriegsmonaten oft nur ein wenig beachtetes Randereignis der Kampfhandlungen war. Ein solcher Zufall kam nun bei der Aufklärung einer Flüchtlingstragödie zu Hilfe, die Anfang Februar 1945 im ehemals brandenburgischen Städtchen Drossen spielt, dem heutigen Osno Lubuskie in Polen. Dort startete am 2. Februar 1945 (anderen Quellen zufolge einen Tag früher) ein Zug mit hunderten Zivilisten. Alle flohen vor der heranrückenden Roten Armee. Doch russische Panzer stoppten den Zug – und mehr als 200 Menschen sollen massakriert worden sein.

Kölner Evakuierungen in Richtung Osten

Der 2013 veröffentlichte Band „Rodenkirchener erinnern sich“, den der Kölner Kulturwissenschaftler Cornelius Steckner herausgegeben hat, arbeitet die Ereignisse in Drossen aus Kölner Sicht detailliert auf. Grundlage sind laut Steckner tagesgenaue Feuerwehrprotokolle. Ebenso

findet sich in dem Band die Gedenkrede des Zeitzeugen Wilhelm Kuhn, die dieser vor der Rodenkirchener Pfarrgemeinde St. Maternus am 2. Februar 1985 gehalten hat. Steckner weist darauf hin, dass Evakuierungen von Zivilisten in Richtung Osten während des Zweiten Weltkrieges zum Alltag in Köln gehörten. Historiker zählen es zu jenen Städten, die während des Krieges am häufigsten von alliierten Bombern angegriffen und stark zerstört wurden; mehr als 260 Luftangriffe sind aktenkundig sowie rund 20 000 Tote bei damals 770 000 Einwohnern.

Am 31. Januar gibt es um 19.30 Uhr in der Stadtbibliothek Rodenkirchen (Schillingsrotter Straße 38) einen Rückblick auf die Kölner Ost-Evakuierung mit Zeitzeugen.

Im April dieses Jahres stieß ein Team aus Forensikern um den polnischen Historiker Tomasz Czabanski auf ein Massengrab am Bahngleis bei Drossen. Der Historiker hilft dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei der Suche und Umbettung von Kriegstoten. In dem Grab fanden sich die Überreste von 16 Zivilisten, vor allem Frauen und Kinder. Czabanski war überzeugt: Bei den Toten handelte es sich um Insassen aus besagtem Zug, die in der Mehrzahl Drossener Bürger gewesen sein mussten.

Im Internet stieß der Kölner Klaus Reichwein auf einen Artikel über die Umbettungsaktion und wurde hellhörig. Ihn interessierte: „Wo liegt eigentlich Drossen?“ Der 70-Jährige recherchierte über ein düsteres Stück seiner Familiengeschichte, das eng mit dem Todeszug verbunden ist. Reichwein sagt: „Es waren auch viele Kölner in dem Zug.“ Unter anderem seine Mutter, Großmutter, Tante und deren 14-jährige Tochter Katharina. Das Drama hinter dem Drama: Die Kölner waren kurz zuvor aus ihrer ausgebombten Heimatstadt, der sich die US-Truppen näherten, in Richtung Ostbrandenburg evakuiert worden – fatalerweise mitten hinein in den Vormarsch der Russen.

 Trude Merten aus Köln-Weiß (oben) saß als 16-jähriges Mädchen in dem „Todeszug“.

 Trude Merten aus Köln-Weiß (oben) saß als 16-jähriges Mädchen in dem „Todeszug“.

Wie kann man den Kölner Opfern der humanitären Katastrophe von Drossen nach über 70 Jahren noch ein Gesicht geben? Die Frage trieb Reichwein und seine Frau Edith (72) um. Für ihn war das so etwas wie eine späte Pflicht: „Meine Mutter hat die Ereignisse in Drossen bis zu ihrem Tod im Alter von 91 Jahren nie aus dem Kopf bekommen.“ Bewegt schrieb er an Czabanski. So kamen neue Recherchen in Gang, die auch Karl-Josef Windt (63) unterstützte, leitender Pfarrer der Katholischen Kirchengemeinde St. Joseph und Remigius für die heutigen Kölner Stadtteile Rodenkirchen, Sürth und Weiß. Schließlich hatten die Reichweins lange in Rodenkirchen gelebt, wo die Familie eine Kaffeerösterei betrieb. Windt sagt, dass ihn bereits kurz nach Antritt seiner Pfarrstelle 1988 eine Überlebende des Massakers von Drossen gebeten habe, immer anlässlich des Jahrestag des Überfalls auf den Zug in einer Messe der Kölner Opfer zu gedenken. Denn für viele Familien aus den umliegenden Stadtteilen sei Drossen zu einem Trauma geworden.

Tausende von Schicksalen noch ungeklärt

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge will in Polen seine Suche nach zivilen Kriegsopfern fortsetzen, erklärt Thomas Schock, Referatsleiter des Umbettungsdienstes. Getötete Vertriebene und Flüchtlinge seien zunehmend in den Fokus gerückt, was auch mit einem gewandelten politischen Klima zu tun habe. Oft ist das Schicksal der zivilen Opfer bis heute unklar – etwa das jener 2000 Toten, die man zufällig 2009 in der nordpolnischen Stadt Małbork (Marienburg) fand. „Keiner weiß, wer sie sind“, sagt Schock. Anfang Oktober stieß Tomasz Czabanski auf ein Massengrab in der westpolnischen Stadt Kargowa (Unruhstadt). Sein Team exhumierte zwölf Tote: einen Mann, neun Frauen, zwei Kinder.

Czabanski plant auch eine Grabung in einem ehemaligen Internierungslager für Kriegsgefangene und Flüchtlinge bei Swiecie (Schwetz). Auch will er im Frühjahr nach den Opfern des „Todeszuges“ von Drossen graben. Allerdings sind polnische Behörden laut Volksbund derzeit zurückhaltend mit Genehmigungen.

So wie für den damals 14 Jahre alten Wilhelm Kuhn aus Rodenkirchen. Der heute 86-jährige Diplom-Kaufmann, der als Student an der von Theodor Schieder und Hans Rothfels organisierten „Dokumentation der Vertreibung“ mitwirken sollte, gehörte damals mit seinen Eltern und den beiden Schwestern zu rund 120 Rodenkirchenern, die sich am 19. Januar 1945 einem Evakuierungszug anschlossen. Der startete vom Bahnhof Rodenkirchen, in Brühl stiegen weitere Reisende ein. Mit im Zug saß neben den vier Reichwein-Frauen auch die Familie der damals 16 Jahre alten Trude Merten aus Rodenkirchen-Weiß. Sie spricht von „mehreren hundert Fahrgästen“ aus Kölns südlichen Stadtteilen und Vororten. „Ziel unseres Transportes sollte Thüringen oder Sachsen sein“, erinnerte sich Kuhn in einer Rede, die er 1985 hielt. Ein Rätsel bleibt, warum der Zug nicht dorthin fuhr, sondern in die Neumark, den (heute polnischen) östlichen Teil Brandenburgs.

Am 21. Januar 1945 erreichten die Evakuierten laut Kuhn schließlich Drossen, „wo wir von den Dorfautoritäten, Polizei und Männern in Parteiuniform empfangen wurden“. Einige Passagiere wurden in der Drossener Aufbauschule einquartiert, andere in Privathäusern. Die Reichweins etwa waren in einem Hof in Zielenzig, dem heutigen Sulecin, gelandet. Mertens kam bei einem Landwirt in Drossen unter, der die Gäste ungläubig fragte: „Warum kommt ihr ausgerechnet hierher? Wir packen schon.“ In der Tat, so berichtet Wilhelm Kuhn weiter, war der Aufenthalt am 2. Februar 1945 wieder zu Ende, alles strömte zum Bahnhof: Die Rote Armee stand vor Drossen. Gegen 11 Uhr fuhr dann ein Zug unter einer Rot-Kreuz-Flagge in Richtung Reppen (heute Rzepin) ab, wie Kuhn noch weiß. Aber auch eine Vierlingsflak sah er auf dem letzten Wagen. Weit kam man nicht. Wilhelm Kuhn hörte das typische Knallen der Panzergeschütze: „Der Dampfkessel der Lokomotive war getroffen. Dann wurde auf die Abteilwagen geschossen.“ Viele – auch die Familien Merten und Reichwein – liefen um ihr Leben in einen nahen Wald. Kuhn sah noch „zwei T-34-Panzer in der Nähe des Zuges hinter uns, und mehrere sowjetische Soldaten inspizierten den Zug von vorne bis hinten“.

Edith und Klaus Reichwein verloren in diesen Tagen zu Beginn des Februar 1945 vier nahe Angehörige – unter ihnen die damals 14-jährige Katharina Hilgers.

Edith und Klaus Reichwein verloren in diesen Tagen zu Beginn des Februar 1945 vier nahe Angehörige – unter ihnen die damals 14-jährige Katharina Hilgers.

Nach einer Nacht im Freien liefen die Überlebenden zurück nach Drossen, wo bald darauf die Rote Armee einrückte. Dann hatten sich die Wege getrennt: Familie Merten durfte sich mit einer „Gruppe von rund 150 Kölnern“ auf einen monatelangen Heimweg machen, mit Zwischenstationen nahe Frankfurt/Oder und in Erxleben (Sachsen-Anhalt). Erst im Sommer kam Trude Merten wieder in Köln an. Mit sich führte sie eine Urne – mit der Asche des unterwegs verstorbenen Vaters.

Auch Kuhns blieben nicht lange in Drossen. Nachdem es dort in der Nacht vom 3. auf den 4. Februar zu schlimmen Übergriffen gekommen war, durfte Wilhelm Kuhn mit seinem Vater und der Schwester am 5. Februar unter Bewachung nochmals zu dem zerstörten Zug. Sie wollten Gepäck retten. In den zerschossenen Abteilwagen lagen viele Tote. Was Wilhelm Kuhn zudem sah: ausgehobene Gräber. Am 10. Februar mussten Kuhns Drossen in Richtung Zielenzig verlassen, wo die Familie bis Mitte Juni 1945 lebte. In Etappen ging es über Frankfurt/Oder, Berlin-Lankwitz, Muldenstein und Rackith bei Wittenberg zurück nach Köln. Als sie ankamen, war es Heiligabend 1945.

Edith und Klaus Reichwein  verloren  vier nahe Angehörige.

Edith und Klaus Reichwein  verloren  vier nahe Angehörige.

Die Reichweins dagegen hatten lange in Drossen bleiben müssen. In einem zugewiesenen Haus kam es am 8. Februar 1945 zur Katastrophe, die Klaus Reichwein so rekonstruiert hat: „Meine Mutter war gerade auf der Suche nach etwas Essbarem, als betrunkene russische Offiziere versuchten, die drei zurückgebliebenen Frauen zu vergewaltigen.“ Zum Objekt der Begierde geriet die 14-jährige Katharina, Kuhns Mitschülerin. Mutter und Großmutter hatten sich schützend vor das Mädchen gestellt, worauf die Rotarmisten Katharina und ihre Großmutter erschossen. Mit einem Lungendurchschuss überlebte Reichweins Tante: „Meine Mutter war mitten in diese schreckliche Szene geraten.“ Im Garten des Hauses sollen die Leichen noch immer verscharrt liegen.

Bis Mai 1945 wurden die beiden überlebenden Frauen in Drossen zur Feldarbeit eingesetzt. Dann begaben sie sich zu Fuß auf einen monatelangen Heimweg quer durch das zerstörte Deutschland: „Meine Mutter hat ihre verletzte Schwester in einer Schubkarre geschoben.“ Ihre rund 800 Kilometer lange Route dokumentieren alte „Quartierscheine“. Wie viele Kölner die Zugfahrt nach Drossen nicht überlebt haben? Kuhn vermag es nicht zu sagen. Aber der 86-Jährige bietet an: „Ich bin bereit, dem Volksbund bei der Suche nach Opfern zu helfen.“

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