StammzellenspendeWie diese Kölnerin einem kleinen Jungen in Indien das Leben rettete

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DKMS Ärztin

Dr. Sita Arjune und Maheer. Das Foto entstand vor fünf Jahren bei einer Jubiläumsfeier der DKMS. 

Köln – Auf einmal kam sie in Frage. Sita Arjune hat sich bereits vor 13 Jahren als Knochenmarksspenderin eintragen lassen. Ein guter Freund von ihr war damals, mit Anfang 20, an Blutkrebs gestorben. Die Kölnerin ließ sich wie viele in ihrem Freundeskreis bei der DKMS (Deutsche Knochenmarkspenderdatei) registrieren. „Die war damals lange nicht so bekannt wie heute.“ Es war kein großer Akt. Danach passierte erst einmal: nichts.

Auf der anderen Seite der Erde gab es 2012 einen Jungen, der Hilfe brauchte: Maheer, 6, aus dem indischen Ahmedabad. 5,5 Millionen Menschen leben in der fünftgrößten Stadt des Landes, fünf Mal mehr als in Köln. In der Monsunzeit regnet es so viel, dass auch große Straßen heillos überflutet werden, es wird bis zu 40 Grad heiß. Sita Arjune war noch nie in Indien.

Hoffnung auf Leben geben

Als der Brief der DKMS kam, hat sie vor allem Freude empfunden. „Plötzlich war da jemand, dem ich mit meiner Spende Hoffnung auf Leben geben konnte.“ Es folgten Untersuchungen im Mediapark. Einige Tage vor der eigentlichen Stammzellenentnahme musste sie sich ein Medikament mit dem Wachstumsfaktor G-CSF spritzen. Der hormonähnliche, körpereigene Stoff sorgt für eine vermehrte Produktion von Stammzellen.

Bei der so genannten „peripheren Entnahme“ werden die Stammzellen aus der Blutbahn entnommen. Es hat rund vier Stunden gedauert, danach konnte sie wieder nach Hause gehen. Als Lebensretterin fühlte sie sich nicht. Nach der Entnahme erfahren Spender nicht, für wen sie ihr Zellen gegeben haben. Nicht das Alter, aber das Geschlecht und das Land. Die Daten werden für zwei Jahre gesperrt, es soll ein Schutz für beide Seiten sein. Eine Krankenschwester konnte sich eine Bemerkung dennoch nicht verkneifen: „Sie haben einen schönen Fall“, sagte sie zu Sita Arjune. Das konnte vieles heißen. Es klang gut.

Kein Mensch in Indien passte als Spender

Was die junge Frau aus Ehrenfeld nicht wusste: Die Stammzellen wurden sofort nach der Entnahme nach Indien geflogen. Für den kleinen Maheer hatte sich in seiner Familie kein Spender gefunden, auch nicht in dem riesigen Land mit 1,39 Milliarden Einwohnern. Einen gab es, der gepasst hätte, aber er ist vor der Spende wieder abgesprungen. Er hatte Geld verlangt.

DKMS 15jähriger

Will selbst forschen und helfen, Krankheiten zu besiegen: Maheer (15)  lebt im indischen Ahmedabad. 

„Ich war noch sehr jung und wusste damals nicht wirklich, was passierte und warum meine Eltern so ängstlich waren“, sagt der heute 15-Jährige Maheer. „Aber ich habe gemerkt, dass etwas nicht stimmte.“

Im November 2009 hatten die Ärzte zum ersten Mal Leukämie bei dem Jungen diagnostiziert. Er wurde behandelt und galt zwischenzeitlich als geheilt, doch im Juni 2012 kehrte der Krebs zurück und es war klar: Nur eine Stammzellenspende würde ihn retten können. Fünf Monate später fand dank der Spende aus Köln die Transplantation statt. Besonders die ersten Wochen nach dem Eingriff sind wichtig, dann zeigt sich, ob der Körper das Zellmaterial annimmt. Bei Maheer funktionierte es. Er ist gesund geblieben, heute ist er voller Energie.

„Es fühlt sich ein bisschen an, als wenn ich einen kleinen Bruder bekommen hätte“, sagt Sita Arjune. Zwei Jahre nach der Transplantation schrieb ihr Vater Chirag das erste Mal eine Mail. Die DKMS hatte – mit beiderseitigem Einverständnis – den Kontakt hergestellt. „Es war sehr emotional.“ Der Vater ist geschäftlich viel unterwegs, als er zu einer Messe nach Köln reiste, kam es zu einer ersten Begegnung. „Wir haben uns sofort gut verstanden“, sagt Arjune. Der Vater sagte zu ihr: „Du gehörst jetzt zur Familie.“

Als die Kölnerin ihren „Blutbruder“ 2016 in Berlin traf, war auch sie aufgeregt. Maheer war schüchtern, doch die freche Schwester Janya löste die Anspannung. Die Begegnung fand zur Feier des 25-jährigen Bestehens der DKMS statt. Für den Jungen war es etwas Besonderes nach Deutschland zu reisen. Die Frau zu treffen, der er sein Leben verdankte, konnte er erst nach und nach einordnen. „Der einzige Grund, warum ich weiter atmen, leben und sprechen kann, ist, dass ich eine Transplantation erhalten habe.“

Die Reise nach Indien steht noch aus

Sita Arjune ist die Dankbarkeit manchmal fast unangenehm. Sie würde Maheer gerne in seiner Heimat besuchen, das geht aufgrund der aktuellen Corona-Situation nicht. Der Familie geht es gut, sie lebt in einem eigenen Haus und kann Kontakte weitgehend vermeiden. Geimpft sind die Eltern aber noch nicht, natürlich müssen sie aufpassen, um auch ihr Kind zu schützen. Maheer hört gerne Musik, er ist interessiert an Gesundheitsthemen, will Forscher werden. Sita Arjune forscht als Medizinerin in Köln an Stoffwechselkrankheiten. Die Spende sei für sie selbstverständlich gewesen. Es war doch nur etwas Blut.

Was ist das eigentlich – ein genetischer Zwilling?

Die Chancen, einen Spender zu finden, dessen Blut mit dem des Patienten übereinstimmt, ist in sehr vielen Fällen gering. Entscheidend ist eine hohe Übereinstimmung der Humanen Leukozyten-Antigene (HLA-Gene). Es gibt 23.000 dieser Gewebemerkmale, die in Abermillionen Ausprägungen auftreten. Die Wahrscheinlichkeit, einen Spender in gleicher regionaler Abstammung zu finden, ist ungleich größer. Einfach gesagt: Ein Deutscher findet eher einen Spender in Deutschland, ein Türke eher in der Türkei. Immerhin ein Drittel der Patienten findet einen Spender in der eigenen Familie. „Uns war klar, dass Maheer nicht überleben würde, wenn wir nicht rechtzeitig einen Spender finden würden, sagte Maheers Vater Chirag. „Das ist ein schreckliches Gefühl.“

6300 Kilometer leben Maheer und Sita Arjune voneinander entfernt. Aber warum passten ausgerechnet ihre Merkmale zueinander? Eine Spekulation: Die 33-jährige Arjune wurde in Köln geboren, ihr Vater stammt aus Guyana in Südamerika. Das Land war früher britische Kolonie, knapp die Hälfte der Einwohner sind indischer Herkunft. Nach der Abschaffung der Sklaverei hatten Briten ab 1838 Landarbeiter aus ihrer Kolonie in Indien angeworben.

Im Zuge der Globalisierung werden die HLA-Merkmalskombinationen immer vielfältiger. Viele spezifische Varianten sind in den Datenbanken unterrepräsentiert. „Vor allem Patienten mit einer gemischten Herkunft haben es schwer, einen geeigneten Spender zu finden“, teilt die DKMS mit. Die internationale Suche läuft über das Zentrale Knochenmarksspende-Register (ZKRD).

27 Sekunden vergehen im Schnitt, bis ein weiterer Mensch weltweit die Diagnose Blutkrebs erhält. In Deutschland geschieht dies alle zwölf Minuten. Für viele ist die Stammzellenspende die einzige Hoffnung. Über internationale Partnerorganisationen wird weltweit nach entsprechenden „Blutsgeschwistern“ gesucht.

10,76 Millionen Spenderinnen und Spender sind weltweit mit ihren Merkmalen registriert. Die Gründung der DKMS jährt sich am 28. Mai zum 30. Mal. In den vergangenen drei Jahrzehnten haben Spender 92 352 „Lebenschancen“ in 57 Ländern ermöglicht, teilt die Organisation mit. In Köln sind aktuell 114 611 Menschen bei der DKMS registriert, davon haben 1312 Stammzellen gespendet. Eine von ihnen: Sita Arjune. (mft) www.dkms.de

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