Vor 100 JahrenNach dem Ersten Weltkrieg war Engelskirchen Grenzgemeinde

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Kanadische Soldaten im Schottenrock ziehen über die Hauptstraße in Engelskirchen ein. 

  • Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war Engelskirchen unter dem englischen Besatzungsregime von Köln abgeschnitten.
  • Von Mitte Dezember 1918 an führte das zu zahlreichen Erschwernissen für die Zivilbevölkerung, etwa beim Reisen mit der Bahn.
  • Der Einmarsch der Besatzer in Engelskirchen hatte für die Leute aus dem Oberbergischen aber auch seine skurilen Momente.

Engelskirchen – Der im November 1918 vereinbarte Waffenstillstand zwischen den alliierten Siegern und dem Deutschen Reich sah nicht nur den Abzug der deutschen Armee aus den besetzten Gebiete binnen 14 Tagen vor. Dazu kam die Räumung des linken Rheinufers und dreier Brückenköpfe in Mainz, Koblenz und Köln innerhalb von 25 Tagen.

Zum Kölner Brückenkopf gehörte das Umland in einem Radius von 30 Kilometern, zudem ein zehn Kilometer breiter Streifen als neutrale Zone, die weder vom deutschen Heer noch von den Alliierten betreten werden durfte. So bezogen die neuen Herren am 13. Dezember in Overath und am 14. Dezember in Loope ihre Stellungen.

Engelskirchen von Köln abgeschnitten

Sie richteten auf dem Grünscheider Köpfchen eine Grenzwache ein und riegelten den Durchgang für die Bevölkerung auf der Köln-Olper Chaussee ab. Damit war Engelskirchen von Köln abgeschnitten. Weder Brief noch Zeitung kamen im Ort an Agger und Leppe an.

In einer Sonderausgabe bereitete die „Bergische Wacht“ ihre Leser am 15. Dezember auf die „feindliche Besatzung“ vor. 70 Engländer und ihre Pferde nahmen Quartier in Loope und Ehreshoven. Der Kölner Brückenkopf reichte rechnerisch bis Ohl, zwischen Loope und dem Ort Engelskirchen gelegen.

Das hatte zunächst schwerwiegende Folgen für den Eisenbahnverkehr zwischen Köln und Gummersbach: Die Zugverbindung aus Köln endete schon am Freitag, 13. Dezember, abends um 18 Uhr in Ehreshoven. Englische Offiziere verfügten dort kategorisch, dass der Zug nicht weiter fahren könne.

Die Bergische Wacht berichtete empört: „Die zahlreichen Reisenden des Zuges mußten ihr Heim zu Fuß aufsuchen, zumteil auf weiten Wegen. Was diese plötzliche, willkürliche Maßregel für einen Sinn hat und wie sie mit der Freiheit übereinstimmt, die uns die Entente bringen will, haben wir noch nicht ergründen können.“

In Engelskirchen, das schon zur neutralen Zone gehörte, stand ein Zug bereit, der die Fußgänger aufnahm und weiter in Richtung Gummersbach transportierte. Von Loope aus ging es in Richtung Domstadt. Die Strecke dazwischen mussten die Reisenden zu Fuß zurücklegen.

Für ältere und beeinträchtigte Menschen, wie Kriegsbeschädigte mit und ohne Gepäck, eine unhaltbare Situation. Allerdings gab es ohnehin nur vier Zugverbindungen, und reisen konnte nur, wer einen amtlichen Reiseschein hatte. Dafür musste man genau nachweisen, dass die Eisenbahnfahrt beruflich oder medizinisch notwendig war.

Die künstliche Grenze hinter Ohl hatte nicht lange Bestand. Am 27. Dezember rückten die Besatzer über Engelskirchen bis zur Gemeindegrenze nach Ründeroth vor. Denn sie benötigten eine Bahnstation mit einem größeren Vorplatz und vor allem Kommunikationseinrichtungen wie Telefon, Telegraf und Poststation in schnell erreichbarer Nähe.

Bürgermeister Hübner ermahnt die Bürger zu Gehorsam

Der Engelskirchener Bürgermeister Julius Hübner wandte sich vor dem Einmarsch der englischen Soldaten an seine Gemeinde mit Verhaltensempfehlungen. Die Anordnungen der englischen Besatzer seien genauestens zu befolgen, Man möge „sich der Besatzung gegenüber eines höflichen, aber würdigen und zurückhaltenden Benehmens sowohl in der Öffentlichkeit als auch zu Hause zu befleißigen“.

Seine besondere Sorge galt dem Verhalten der Kinder und Jugendlichen, die durch die Kriegszeit keine strenge Erziehung erhalten hatten. „Vor allem bitte ich, die Jugend möglichst von der Straße zu halten und vor Belästigungen des britischen Militärs zu warnen. Sollten Ausschreitungen seitens der Jugend vorkommen, ist das Verbot des Betretens der Straße durch die Jugend zu gegenwärtigen.“

Wer sich irgendwelche Widerstandsaktionen erlauben wollte, wurde dringend vor der Reaktion der Besatzer gewarnt: „Jeder Verstoß gegen die öffentliche Ordnung zieht scharfe Maßnahmen gegenüber der Allgemeinheit nach sich.“

Kanadier kamen im Schottenrock über die Hauptstraße

Dann erlebten die Engelskirchener eine Überraschung: Es waren Kanadier in den traditionellen schottischen Uniformen ihres Regimentes, des 48. Hochländerregiments, die über die damalige Hauptstraße in den Aggerort einmarschierten. Begleitet vom Erstaunen der Bevölkerung besetzten die mit Dudelsack bewaffneten und mit Röcken bekleideten Soldaten Bahnhof, Post und Fernsprechamt.

Mindestens sechs Soldaten wurden pro Haushalt unter heftigem Protest der Besitzer einquartiert. Schloss Ehreshoven und die Villa Braunswerth blieben nicht verschont.

Ein englischer Besatzungssoldat, der später in der Villa wohnte, notierte auf einer Ansichtskarte der Villa Engels zur Erinnerung: „The people there have bags of money and keep 8 horses.“ (Die Bewohner haben die Taschen voller Geld und besitzen acht Pferde.)

Zur Mangelsituation kamen nun auch noch Beschränkungen für die Bevölkerung. Das Verlassen des Wohnortes war untersagt. Telefonate und Post unterlagen der strengen Zensur durch die englische Besatzungsmacht.

Der Aufenthalt auf der Straße war ab 9 Uhr abends bis 5 Uhr morgens untersagt. Wer in dieser Zeit zur Arbeit musste, benötigte einen Pass und eine Bescheinigung, die von den Besatzern unterzeichnet sein musste. An jeder Haustür musste von innen ein Verzeichnis der Bewohner mit Name und Beruf angeschlagen sein.

Englische Uhrzeit eingeführt

Von Anfang Januar 1919 an galt im von den Engländern besetzten Gebiet die englische Uhrzeit. Post, Gemeinde, Kirche und öffentliche Einrichtungen sowie das gesamte Geschäftsleben fügten sich klaglos und stellten die Uhren eine Stunde zurück. 

Begegnete man auf der Straße einem englischen Offizier, musste man zum Gruß die Kopfbedeckung abnehmen. Nach dieser Regelung setzte sich die hutlose Mode durch, keiner trug mehr eine Kopfbedeckung.

Gleiches galt beim Abspielen der englischen Hymne: Wurde sie angestimmt, verließen die Engelskirchener gemessenen Schrittes die Lokalität. Wer sich jedoch demonstrativ weigerte, die Ehrenbezeugung zu erweisen, konnte von einem englischen Gericht, das unter anderem in der katholischen Volksschule tagte, zu empfindlichen Strafen verurteilt werden.

Doch die Besatzung hatte auch Vorteile. Die Ernährung der Gastgeber reicherte sich mit Nahrungsmitteln an, die bisher nicht zu bekommen waren: Morgens brachten zwei Küchensoldaten gerösteten heißen Speck in die Quartiere der Soldaten, und die Kanadier waren offenbar nicht knauserig gegenüber der Bevölkerung.

Edmund Schiefeling jedenfalls schwärmte noch 13 Jahre später: „Ihr Chesterkäse und ihr Speck, ordentliche Stücke ihrer argentinischen Ochsenhälften und sogar ihr entsetzlicher, in harte Platten gepresster, wohl mit Opium getränkter Tabak, ihre Zigaretten usw., von deren Rauch die Augendeckel steif wurden, wanderten in die Hände der Gastgeber.“

Umgekehrt liebten die Kanadier die Engelskirchener Bratkartoffeln. Vielleicht weil viele Soldaten familiäre Wurzeln in Deutschland hatten. Tatsächlich hatte ein kanadischer Soldat namens Pickhardt einen Vorfahren aus Berghausen bei Gummersbach.

Besatzer und Besetzte kamen sich menschlich näher

„In der kurzen Zeit seit dem 27. Dezember hatte sich ein ganz eigenartiges Verhältnis zwischen Bevölkerung und Besatzungstruppen herausgebildet“, erinnert sich Schiefeling. „Man war sich menschlich näher gekommen.“

Am 8. Januar 1919 wurden die Kanadier aber von englischen Truppen abgelöst. Zunächst war es das Durham Regiment. Darauf folgte das Queens Regiment. Die englischen Besatzer waren weniger zugänglich. Sie führten die Kontrollen an den Grenzkontrollstellen akribisch durch und ernteten das Missfallen der Eingesessenen.

Dazu trug auch bei, dass die Kleinbahn nach Marienheide bis Bickenbach ohne Personen und Fracht verkehren musste. Erst in Bickenbach, das in der Gemeinde Ründeroth und damit in der neutralen Zone lag, konnte zugestiegen und zugeladen werden.

Die Züge von Marienheide beförderten Personen und Fracht ebenfalls nur bis Bickenbach. Widerstandsaktionen der Einheimischen wurden mit der Androhung von drakonischen Strafen im Keim erstickt.

Edmund Schiefeling zieht eine gemischte Bilanz: „Die Besatzung brachte manchen Druck, aber sie brachte auch gewisse Vorteile, vor allem Sicherheit zu Beginn der Besatzungszeit.“ Schiefeling charakterisiert die englischen Soldaten durchaus positiv: „Ihr Sinn für Sport und die harmlose, kindlich fröhliche Art ihres Wesens nahm für sie ein, ebenso auch ihre Art der Demokratie. Wie sich z. B. General und ,Soldier’ im Geschäft begegneten, sich ohne militärisch zu grüßen, gegenseitig Waren zeigten und reichten, das war für uns unfaßbar.“

Im November 1919 verschwanden die Besatzer von einem auf den anderen Tag, „so still und unauffällig, daß die Bevölkerung nicht einmal eine Befreiungsfeier halten konnte“, wie der Redakteur der Bergischen Wacht nüchtern feststellt. Vom 11. November 1919 an war Engelskirchen kein Grenzort mehr.

Passfälscherei im großen Stil

Von einem Tag auf den anderen wurde Engelskirchen Ende 1918 zum Grenzort mitten in Deutschland. Ein Ausweis mit Lichtbild wurde zur dringenden Pflicht für jeden Einwohner, der älter als zwölf Jahre war.

So kam es zu einem „Massenfotografieren“, wie Zeitungsredakteur Edmund Schiefeling berichtet, der den einzigen geeigneten Apparat im ganzen Bezirk besaß. „Zu 16 und mehr auf einer Platte wurden die zu hunderten auf einmal angetretenen Landsleuten abkonterfeit und dann das fertige Bild auseinander geschnitten. Das Bildchen wurde in einen gedruckten Ausweis eingeklebt, von der Ortsbehörde bescheinigt. Wehe, wer keinen Personalausweis hatte.“

Frist bis Mitte Januar verlängert

Bis zum Jahreswechsel 1918/19 war es dennoch unmöglich, für die gesamte Einwohnerschaft Ausweise mit Lichtbild auszustellen. Das sahen auch die Besatzer ein und verlängerten die Frist bis Mitte Januar.

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Kontrollpunkt in Blumenau: Wer von Bickenbach kommend einreiste, musste sich ausweisen.

Am Ende blieben eine beträchtliche Anzahl von unversorgten Bürgern übrig, die keine Papiere für die Einreise ins besetzte Gebiet hatten. Diese wandten sich nach und nach vertrauensvoll an Edmund Schiefeling, dessen Druckerei mit Genehmigung der englischen Besatzungsmacht Blankopässe drucken durfte.

Im Jahr des 25-jährigen Bestehens der „Bergischen Wacht“, 13 Jahre später, beichtete Schiefeling: „Und so haben wir eine schwunghafte, natürlich kostenfreie Paßfälscherzentrale aufgemacht. Ein Blick auf das Antlitz des Gesuchstellers genügte: Schnäuzer oder glattrasiert, Pläte oder Lockenhaupt, mager oder – ach nein, dick kam nicht vor in damaliger Zeit – und schon war aus dem Vorrat von Hunderten von Gesichtern etwas Passendes ausgesucht, auf ein Paßformular geklebt, mit dem Adler eines Fünfmarkstückes ein tadelloses Siegel aufgedruckt, dann eine schneidige Unterschrift (unleserlich natürlich) hingeschmettert und der Paß war fertig.“ Glück für Edmund Schiefeling, dass diese Passkreationen offiziell nicht aufgefallen sind. 

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