Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Serie

Star-Violonist Isaac Stern
Niemals im Land der Täter – bis die Ausnahme Köln kam

Lesezeit 5 Minuten
Isaac Stern spielt Violine

Es fiel Isaac Stern nicht einfach, nach Deutschland zu kommen. Seine ganze Familie wurde von den Nationalsozialisten ermordet.

Star-Violonist Isaac Stern gab auf der ganzen Welt Konzerte. Nur um Deutschland machte der Sohn jüdischer Eltern einen großen Bogen – bis ihn der Intendant der Kölner Philharmonie doch noch überzeugen konnte. Anselm Weyer folgt seinen Spuren.

Überall auf der Welt gab Starmusiker Isaac Stern Konzerte, zeitweise über 150 im Jahr. Als erster amerikanischer Geiger nach dem Zweiten Weltkrieg spielte er in der Sowjetunion. Die Oscar-prämierte Dokumentation „Von Mao zu Mozart“ zeigt, wie er 1981 durch China reiste. Nur um Deutschland machte der in der Ukraine geborene Jude einen Bogen – wie beispielsweise auch sein Pianistenkollege Arthur Rubinstein. Bis Stern zwei Jahre vor seinem Tod sensationell eine Einladung von Franz Xaver Ohnesorg annahm, dem legendären Intendanten der Kölner Philharmonie.

Flucht aus der Ukraine und Verlust durch den Krieg

Stern war 1921 mit seinen Eltern Solomon und Clara im Alter von nur zehn Monaten aus der Ukraine nach San Francisco eingewandert. Was an Familie in der alten Heimat zurückgeblieben war, sollten die deutschen Truppen nach ihrem Einmarsch in die Sowjetunion ausnahmslos ermorden. „Bis zum letzten entfernten Vetter.“ Deshalb hatte sich der Geiger geschworen, niemals im Land der Täter zu konzertieren. Ein heiliger Schwur, den er zwischendurch durchaus bereute, spielte er doch besonders gern Musik deutscher Komponisten, von Beethoven über Brahms bis hin zu Hindemith und Berg. „Niemals werde ich vor einem Publikum gespielt haben, das mich durch seine ungeheuerliche musikalische Tradition wahrscheinlich besser verstanden hätte als jedes andere Publikum in der Welt“, sagte er bedauernd. Aber: Versprochen ist versprochen.

Erste Auftritte in Europa und persönliche Konflikte

Zwar hatte er einmal doch ein Gastspiel in der österreichischen Hauptstadt gegeben. Sein Konzert, das er 1949 mit den Wiener Symphonikern gab, begeisterte gleichermaßen Publikum wie Kritik. Das konnte aber nicht ausgleichen, was Stern abseits der Bühne erlebte. Verdrängung, mangelnde Einsicht, Verleugnung. Stern wollte nicht mehr für die Täter spielen. „Wenn ich Geige spiele, gehe ich eine sehr intime Verbindung mit meinen Zuhörern ein“, erklärte Stern. „Das ist schwierig für mich bei einem deutschen Publikum. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich trage keine Wut in mir keinen Hass.“ Keine Probleme hatte Stern beispielsweise damit, dass seine Söhne David und Michael als Dirigenten deutscher Orchester fungierten. Oder dass sein Sohn David, der unter anderem das Concerto Köln dirigiert hatte, sogar mit einer Deutschen verheiratet war. „Die Liebenswürdigkeit in Person“, wie der Schwiegervater schwärmte, ebenso seine „zwei entzückenden halbdeutschen Enkeltöchter“.

Franz Xaver Ohnesorg

Franz Xaver Ohnesorg

Unter jenen, die Stern nach Deutschland zu locken versuchten, war Franz Xaver Ohnesorg. Mit dem verstand sich Stern so blendend, dass er ihn aus Köln abwarb und zur von Stern vor dem Abriss geretteten Carnegie Hall in New York lockte. „Immer wieder hat er mich gefragt, und immer wieder habe ich nein gesagt“, erzählte Stern. Dann aber fand Franz Xaver Ohnesorg eine kleine Lücke. Hatte Stern nicht den Ruf, ein Förderer des Nachwuchses zu sein? Galt er nicht als Mentor von Größen wie Jitzhak Perlman oder Yo-Yo Ma? Wenn man den Musiker nicht auf die deutsche Bühne bekäme, dann vielleicht den Pädagogen ins deutsche Klassenzimmer.

Ein historischer Besuch in Köln

Am 29. März 1999 war es dann so weit. Der 1,67 Meter große Musikriese reiste an. Zwar nicht zu einem Konzert, dafür aber immerhin zu einem Kammermusikkurs an der Kölner Musikhochschule, Dagobertstraße 38. Damit er nicht doch noch schwach wurde und sich zu einer aktiven Teilnahme beim Abschlusskonzert am 22. April in der Kölner Philharmonie hinreißen ließe, war Stern ohne Instrument angereist. „She is sleeping comfortably in New York“, antwortete er bei der Pressekonferenz im Hotel Excelsior auf Nachfragen zu seiner legendären Guarneri del Gesù. „Das ist keine Konzerttournee, ich will hier nicht spielen, sondern viel zuhören.“

Aber den Arbeitsbesuch in Köln nahm Stern als dankbare Gelegenheit, nun doch ein wenig Deutschland zu bereisen. „Meine Frau Linda und ich, wir wollen endlich die Städte kennenlernen, wo Bach, Beethoven und Mendelssohn gelebt, gearbeitet und geliebt haben – Komponisten, die stets Teil meines Lebens waren“, verriet Stern. Also besuchte das Ehepaar das Beethovenhaus und das Grab Mendelssohns, hörte ein Konzert im Gewandhaus und eine Probe von Barenboims Chicago Symphony Orchestra in Berlin. Aber er fuhr auch zum ehemaligen Gestapo-Hauptquartier in der Berliner Wilhelmstraße oder zum frisch fertiggestellten Jüdischen Museum von Daniel Liebeskind.

Endlich auf der Bühne in Köln, wenn auch indirekt

Nach seiner Rückkehr nach Köln am Ostermontag stürzte er sich in seinen zehntägigen öffentlichen Workshop. Täglich von 10 bis 14.30 Uhr, unterbrochen von einer Mittagspause. Sechs Streichquartette und ein Klaviertrio nahmen teil. Und dort, im nüchternen brutalistischen Vortragssaal der Kölner Musikhochschule, schnappte sich Stern dann plötzlich doch die Violine einer Studentin und spielte – wenn auch nur wenige Töne.

Der Workshop gipfelte in einem umjubelten Konzert. Stern und Ohnesorg saßen andächtig lauschend und mitfiebernd in der zehnten Reihe der Philharmonie, während ihre Schützlinge spielten. Als schließlich die Schlussovationen auf sie niederprasselten, fügten alle Kursteilnehmer die ihnen überreichten Rosen zu einem riesigen Strauß zusammen und schenkten diesen ihrem Lehrer Stern. Da musste sich dieser verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel wischen.

Abschiedsszenen und Sterns Tod

„Es war eine aufregende Zeit, und ich bin jetzt sehr müde“, sagte Stern auf der Pressekonferenz zu seinem Abschied. Und auf die Frage, ob er denn zurückkehren würde, antwortete er lächelnd: „Nach diesen Anstrengungen würde ich mir das zweimal überlegen.“ Ausschließen wollte er es aber nicht. Trotzdem kam es nicht dazu.

Am 22. September 2001 starb Isaac Stern in einem New Yorker Krankenhaus an Herzversagen – tief erschüttert von den Terroranschlägen, die wenige Tage zuvor das World Trade Center dem Boden gleich gemacht und so vielen Menschen das Leben gekostet hatten.