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„Schwiegermutter-Gift“Die Geschichte des E-605-Mordes

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Aus feinen Düsen wird das Pflanzenschutzmittel E 605 über einem Feld versprüht.

Worms/Berlin – Blausäure, Arsen, Strychnin, Fingerhut – Leser von Kriminalromanen kennen alle diese mörderischen Substanzen. Doch vermutlich fand keine im Westdeutschland der Nachkriegszeit eine so große Verwendung wie E 605. Vor 70 Jahren – am 27. September 1952 – geschah in Worms das erste nachgewiesene Verbrechen mit diesem Gift. Noch in den 1980er Jahren sprach man mit schwarzem Humor von E 605 als dem „Schwiegermutter-Gift“.

Die erste tödliche Dosis schluckte jedoch ein Mann. Karl Franz Lehmann aus Worms starb völlig unerwartet am 27. September 1952 unter heftigen Krämpfen. Doch dass es sich dabei um ein Verbrechen handelte, dämmerte der Polizei erst an einem Februartag des Jahres 1954. An jenem Tag biss die 30 Jahre alte Annie Hamann – ebenfalls aus Worms – auf eine Praline.

„Schokopilz“ als Mordwaffe

Die Süßigkeit schmeckte so bitter, dass die Frau die Praline auf den Boden spuckte. Ihr kleiner Hund schleckte das Naschwerk auf. Nur Minuten später wanden sich der weiße Spitz und sein Frauchen in qualvollen Krämpfen, kurz darauf waren beide tot. Dafür verantwortlich war Hamanns Freundin Christa Lehmann, deren Ehemann Karl Franz keine zwei Jahre zuvor so mysteriös gestorben war.

Gift mit Wurzeln in der Nazi-Zeit

Wer heute E 605 in einer Reihe mit den sogenannten E-Nummern wie E 160c (Paprika-Extrakt), E 270 (Milchsäure) oder E 954 (Zuckerersatz Saccharin) wähnt, ist völlig auf dem Holzweg. E 605 war nie ein Lebensmittelzusatz, sondern ein Pflanzenschutzmittel. Das E steht hier für „Entwicklungsnummer“. 1944 entdeckt, war es wie viele andere deutsche Erfindungen aus der Nazi-Zeit kein Segen für die Menschheit. Dennoch war die auch Parathion genannte Verbindung im Einsatz gegen Insekten bei Landwirten nach seiner Zulassung 1948 sehr beliebt. Alte Fotos aus den 1950er Jahren zeigen Helikopter, die es großflächig über rheinischen Weinbergen versprühen. Auf diesem Weg nahmen vermutlich Millionen Deutsche das Gift zu sich, aber nur in winzigsten Mengen. (dpa)

Christa Lehmann hatte das von einer deutschen Chemiefirma hergestellte E 605 mit Hilfe einer Schere in den „Schokopilz“ gefüllt, den sie in einem Kaufhaus besorgt hatte. Als Opfer hatte die Giftmörderin aber gar nicht die Freundin ausersehen, sondern deren Mutter. Zu ihr hatte Lehmann ein angespanntes Verhältnis. Doch die Dame wollte die Praline nicht haben und deponierte sie im Kühlschrank, wo ihre Tochter sie dann entdeckte.

Neuartiges Mordwerkzeug

„Ich wurde damals sofort stutzig, als Lehmann erzählte, dass ihr von den Pralinen auch gleich schlecht geworden sei. Das hörte sich wie eine Entschuldigung an“, erzählte der Wormser Kriminalbeamte Kurt Erhard in den 1990er Jahren. Auffälliger noch war die Häufung von Todesfällen im engsten Umkreis der jungen Witwe. Ein Jahr nach dem plötzlichen Tod ihres Ehemanns war ihr Schwiegervater tot vom Fahrrad gefallen – man hatte Magendurchbruch und Herzschlag als Ursachen für den Tod der Männer angenommen.

Vier Tage nach Annie Hamanns Tod nahmen die Beamten Christa Lehmann fest, einige Tage später gab sie alle drei Morde zu. Die Spezialisten des gerichtsmedizinischen Institutes in Mainz hatten in der Zwischenzeit herausgefunden, dass Lehmann mit E 605 gemordet hatte – eine kriminaltechnische Spitzenleistung, denn damals war die Chemikalie noch nicht als Mordwerkzeug bekannt.

„Taten waren ganz einfach“

Autor Walter Landin nutzte das wahre Geschehen als Vorlage für sein Buch „Wormser Gift“ (2020). „Ich kann mir auch vorstellen, dass sie weiter gemordet hätte, wenn sie nicht entdeckt worden wäre“, sagte er in einem Interview. „Die Taten waren ja ganz einfach für sie.“ Der Prozess dauerte nur drei Tage, dann wurde die Giftmörderin zu dreimal lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Ein solch kurzer Prozess wäre heute wohl undenkbar. In den 1970er Jahren kam Christa Lehmann aus der Haft frei und änderte ihren Namen.

„Wir haben bewusst verbreitet, dass eine Vergiftung mit E 605 einen sehr schmerzhaften Tod nach sich zieht. Aber das hat wohl nichts geholfen“, betonte der damalige Ermittler Kurt Erhard. Das Gift wurde extra mit Geschmacksstoffen vergällt, oft roch es stechend.

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Dennoch: Bereits kurz nach Bekanntwerden des Falles kam es in Deutschland und Österreich zu einer Welle von Suiziden mit dem Pflanzenschutzmittel. In den folgenden Jahrzehnten griffen auch immer wieder Mörder zu. Obwohl E 605 seit 20 Jahren auf Feldern in der EU verboten ist, wurde noch 2019 ein Mann in Lübeck verurteilt, weil er seinem Vermieter E 605 in den Wein gemischt hatte. Das Opfer starb. (dpa)