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Neuausrichtung der EnergiewendeWie Wirtschaftsministerin Reiche Milliarden sparen will – und für Debatten sorgt

7 min
Unter dem grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck drückte die Regierung beim Ausbau der Erneuerbaren mächtig aufs Tempo. Seine Nachfolgerin Katherina Reiche will nun eher auf die Bremse treten.

Unter dem grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck drückte die Regierung beim Ausbau der Erneuerbaren mächtig aufs Tempo. Seine Nachfolgerin Katherina Reiche will nun eher auf die Bremse treten. 

Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) legt nach langem Zögern ihren Monitoring-Bericht vor und sorgt für Zündstoff: Der Strombedarf werde deutlich niedriger ausfallen als bisher angenommen.

Der Bericht, den Wirtschaftsministerin Katherina Reiche am Montag nach langem Zögern endlich vorgelegt hat, birgt Sprengstoff. Ihrem Energiewende-„Monitoring“ zufolge wird in den kommenden Jahren wohl weniger Strom gebraucht, als noch unter Reiche-Vorgänger Robert Habeck ermittelt.

Die CDU-Ministerin sieht die Energiewende daher „am Scheideweg“ und will Milliardensummen einsparen. Kritiker werfen ihr vor, aus politischer Motivation den Netz-, Wind- und Solarkraftausbau abzuwürgen – und damit die Zukunftschancen Deutschlands zu gefährden. Worum geht es in dem Streit genau, und wer hat Recht? Fragen und Antworten zum Energiewende-Monitoring:

Was sind die zentralen Ergebnisse des Berichts?

Vor der Energiekrise ging das Wirtschaftsministerium von einem Strombedarf von 658 Terawattstunden (TWh) für 2030 aus. Im aktuellen Netzausbauplan ist sogar von 750 TWh die Rede. Die Monitoring-Autoren nennen eine wahrscheinliche Spannbreite von 600 bis 700 Terawattstunden.

Reiches Ableitung: „Alle seriösen Studien gehen von deutlich weniger Verbrauch aus“, sagte sie bei der Vorstellung des Berichts. Die Folgerung: Auch bei einem gebremsten Ausbautempo erneuerbarer Energien werde trotzdem das Ziel, bis 2035 80 Prozent des Bedarfs mit grünem Strom zu decken, erreicht – „weil der Gesamtverbrauch sinkt“.

Und Reiche rechnet weiter: Bleibe man bei Habecks Ausbaupfaden bei Netzen, Wind und Solar, koste das bis 2035 „700 bis 850 Milliarden Euro“ – drei bis viermal so viel wie in vergangenen Jahren. Bei einem „reduzierten und optimierten“ Ausbau komme man mit einer „Verdopplung“ der Investitionen aus – es gehe also fast halb so teuer. Auch damit werde der Strom perspektivisch teurer als bei den Nachbarn bleiben, aber „dramatische Kostensteigerungen wären zu verhindern“.

Ist der Strombedarf nicht von politischen Entscheidungen abhängig?

Und ob! Und zwar in beide Richtungen. Die Ampel-Strategie lautete, die Industrie zu elektrifizieren, beim Heizen auf Wärmepumpen und beim Autofahren auf E-Autos zu setzen: Mit grünem Strom sollte Deutschland bis 2045 klimaneutral werden und die Wirtschaft wachsen. Aber: Die Industrie wandert teils ab oder verschiebt die Elektrifizierung, weil der Strom zu teuer ist. Und sowohl bei Wärmepumpen als auch bei E-Autos geht es viel langsamer als erhofft. Um wieder auf Kurs zu kommen, müsste die Förderung eigentlich hochgefahren werden.

Die Reiche-Strategie lautet verkürzt: Weil die Industrie-Nachfrage stagniert und die Leute nicht auf Wärmepumpen und E-Autos stehen, brauchen wir weniger Strom und können beim Netzausbau und der Förderung Milliarden sparen. In diese Logik würde passen, wenn das sogenannte Verbrennerverbot gekippt würde. Denn das würde den Hochlauf der E-Mobilität bremsen – und damit den künftigen Stromverbrauch drosseln.

Die Sache hat drei Haken: Das Ziel, bis 2045 klimaneutral zu werden, wäre nicht zu erreichen. Deutschland würde die EU-Vorgaben zur Senkung der Emissionen reißen und müsste dafür viel Geld bezahlen. Und Verbraucher müssen sich wegen der steigenden CO2-Bepreisung auf deutlich höhere Sprit- und Heizkosten einstellen, wenn sie neue Diesel oder Benziner kaufen und bei Gas- und Ölheizungen bleiben. Auf lange Strecke führt an der Elektrifizierung ohnehin kein Weg vorbei, wenn die Emissionen Richtung Null gesenkt werden sollen. Eine Verzögerung jetzt hieße also steigende Kosten in der Zukunft.

Was sind Reiches konkrete Einsparpläne bei der Energiewende?

Was absolut stimmt, und was auch das Energiewirtschaftliche Institut der Uni Köln und die Berliner Beratungsfirma BET Consulting ermittelt haben: Es geht billiger!

Stichwort Solar: Betreiber privater PV-Anlagen bekommen Geld für den Strom, den sie ins Netz einspeisen, auch wenn der gar nicht gebraucht wird. Dafür bezahlt der Staat viel Geld, die Rechnung landet bei allen Kunden. Einer der konkreten Vorstöße von Reiche: Die fixe Einspeisevergütung soll weg. Wer sich so eine Anlage anschaffen will, sollte sich also beeilen. Welches Einsparpotenzial Reiche hier genau verortet, blieb offen.

Stichwort Wind: Anders als beim Solar-Ausbau drohen beim Wind-Ausbau die Ziele verfehlt zu werden. Von ihrem Vorhaben, die Betreiber an den Netzkosten zu beteiligen, ist Reiche womöglich auch deswegen abgerückt.

Sparpotenzial hat die Ministerin vor allem beim Offshore-Wind ausgemacht, zu Recht: Bislang richtete sich die Förderung nach den Kapazitäten der Windparks. Allerdings zeigt sich, dass sich eng beieinander stehende Anlagen den Wind wegnehmen. In der Folge ernten die Betreiber weniger Wind als möglich. Bei einer Ausschreibung der Bundesnetzagentur gab es unlängst kein Gebot.

Die Wirtschaftsministerin will deswegen das Wind-auf-See-Gesetz an der wirklich benötigten und tatsächlich erzielbaren Leistung ausrichten. Das könnte die extrem hohen Kosten für den Netzanschluss der gigantischen Windparks massiv senken. Auch bei den sogenannten Stromautobahnen von Nord nach Süd könnte gespart werden. Konkret wurde Reiche aber auch hier nicht.

Stichwort Netze: Ein Befund, der von der gesamten Branche geteilt wird und auch im Koalitionsvertrag verankert ist: Beim Bau neuer Wind- und Solarparks und Speicher muss genauer hingeschaut werden, ob schon Netze in der Nähe sind. Denn das Verlegen der Leitungen verschlingt Unsummen.

Für die Optimierung machte Reiche eine Reihe von Vorschlägen, etwa regional differenzierte Baukostenzuschüsse. Und sie will an die einst von der CSU erzwungene Pflicht ran, Kabel in der Erde zu verbuddeln. Überlandleitungen sind nicht schön, aber viel billiger. Zuem soll die stockende Digitalisierung Schwung bekommen, damit die Stromverteilung smarter gesteuert wird.

Stichwort Gas: Je mehr Strom aus Wind und Sonne kommt, je größer wird das Problem der Dunkelflauten. In Zukunft sollen dann neue Gaskraftwerke, die auf Wasserstoff umgerüstet werden, einspringen. Für die Förderung der Kraftwerke fehlt aber noch immer das grüne Licht aus Brüssel – auch dazu konnte Reiche keine Neuigkeiten verkünden. Sie wiederholte, dass bis Ende des Jahres erste Ausschreibungen folgen sollen.

Stichwort Wasserstoff: Dass bis 2030 zehn Gigawatt Elektrolyseure zur Produktion von grünem Wasserstoff stehen, hält die Ministerin nicht für realistisch. Die bisherigen Ausbauziele sollen durch „flexible Ziele“ ersetzt werden. Beim Wasserstoff will Reiche eine Abkehr von der Pflicht, diesen nur mit erneuerbaren Stromquellen zu erzeugen. Ihr Stichwort lautet „Low Carbon“: Wasserstoff soll also auch mit Gas erzeugt werden dürfen.

Was sagt der Koalitionspartner SPD zu Reiches Vorschlägen?

Mit gewisser Erleichterung wurde bei der SPD wahrgenommen, dass die CDU-Ministerin nicht die Axt an die Energiewende legen will. Klimaschutzminister Carsten Schneider warnte allerdings, beim Ausbau der Erneuerbaren dürften „keinesfalls neue Hürden“ errichtet werden. Das wurde als Indiz gewertet, Schneider stelle sich gegen eine Kappung der Förderung für Solar oder Wind auf See.

Und der SPD-Minister sagte, im Bereich Heizen und E-Mobilität werde der Strombedarf „deutlich wachsen, wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen“. Die Frage, wie die Bundesregierung den Kauf von E-Autos ankurbeln will, ist freilich weiter komplett unbeantwortet. Konkrete Pläne, etwa für Kauf- oder Leasing-Anreize, gibt es nicht.

SPD-Klima- und Energieexpertin Nina Scheer sagte: „Zur Vermeidung von Deindustrialisierung müsste der Hochlauf der erneuerbaren Energien angesichts steigender Bedarfe bei Rechenzentren und bei Wasserstoffgewinnung sogar noch gesteigert werden.“ Sie fordert, der Staat müsse den Netzausbau finanzieren, um Strom für die Verbraucher günstiger zu machen. SPD-Finanzminister Lars Klingbeil hält davon allerdings wenig.

Und was ändert sich jetzt in der Energiepolitik?

Tja, zu einer echten „Zeitenwende“ bei der Energiewende, die Reiche vor der Vorstellung des Energiemonitorings mal vollmundig angekündigt hatte, wird es nicht kommen.

Der Atomausstieg wird nicht infrage gestellt. An den Klimazielen will die Ministerin festhalten. Für massivere Subventionen für die energieintensive Industrie fehlt das Geld – das ist auch in der EU nicht ohne weiteres erlaubt. Und die Einführung unterschiedlicher Strompreiszonen je nach Verfügbarkeit erneuerbarer Energien, wie es die Nord-Bundesländer und Ökonomen fordern, scheitert am Widerstand der Südländer.

Bei aller Zustimmung der Industrie für die Ansage, die Energiewende billiger zu machen, herrscht doch Ernüchterung vor: „Wie gerade die stromintensiven Unternehmen auf wettbewerbsfähige Strompreise kommen sollen, bleibt das Geheimnis des Bundeswirtschaftsministeriums“, hieß es von der Deutschen Industrie- und Handelskammer.

Etwas optimistischer klingt der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft BDEW: Die Unkenrufe, die Energiewende werde nun abgewickelt, seien falsch. „Durch eine stärkere Fokussierung auf Systemeffizienz lässt sich die Energiewende günstiger und zugleich stabiler gestalten.“

Um das Mammut-Projekt zum Erfolg zu führen, werde Reiche schnell konkret werden müssen, sagte der Chef des Übertragungsnetzbetreibers Tennet, Tim Meyerjürgens, unserer Redaktion. „Entscheidend ist nun, dass die notwendigen politischen Weichen gestellt und die gesetzgeberischen Grundlagen rasch geschaffen werden.“

Die Empfehlungen liegen auf dem Tisch: Mehr Steuerung, gezieltere Förderung, mehr Speicher, mehr europäische Zusammenarbeit, mehr Digitalisierung... Ein Abwürgen der Energiewende gehört – das hat das Monitoring klargemacht – nicht zu den Optionen.