Die Ingenieurkammer-Bau NRW hat ein Normenwerk für den Stahlbau radikal vereinfacht und aus 1000 Seiten Regeln etwas mehr als 100 gemacht. Wir haben mit dem Chef der Kammer darüber gesprochen.
Bürokratie-Abbau„4000 Baunormen in Deutschland sind irre“

Mit einem neuen vereinfachten Regelwerk für den Stahlbau sollen künftig Werkhallen aus Stahlkonstruktionen.
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Die Ingenieurkammer-Bau NRW hat kürzlich einen wegweisenden Beitrag zum Bürokratieabbau beim Bau präsentiert. In Zusammenarbeit mit Verbandsexperten der Branche sowie Forschern der RWTH und FH Aachen hat die Kammer ein Normenwerk für Stahlbau radikal entschlackt und vereinfacht. Über diese Arbeit und das Normenwerk hat Dierk Himstedt mit dem Präsidenten der Kammer, Heinrich Bökamp, gesprochen.
Was war Ihre Motivation und die Ihres Teams, sich diesem umfangreichen und Jahre andauernden Projekt zu widmen?
Wir haben aktuell insgesamt ungefähr 4000 Baunormen in Deutschland. Das ist irre. Die hat man früher bei der Planung nicht gebraucht, und die braucht man heute in dieser Menge auch nicht. Die Praktiker warten händeringend auf solche Angebote, wie wir sie nun umgesetzt und vorgestellt haben.
Wie schafft man es, aus über 1000 Normenseiten nahezu 90 Prozent zu entfernen?
Wir haben so etwas wie einen Wettbewerb ausgeschrieben an Hochschulen in Deutschland und der Schweiz: Ziel war es, nach dem Prinzip „80, 20“ nahezu 80 Prozent der normalen Bauwerke mit nur 20 Prozent des vorhandenen Regelinhalts errichten zu können. Und das hat nach mehr als sechs Jahren der Projektarbeit funktioniert. Normale Werkhallen oder sonstige Stahl- und Hochbauten können mit dem neuen entschlackten Regelwerk ohne Probleme bemessen werden. Im Gegenteil: Es geht sehr viel leichter und schneller.
Aber was konnten Sie konkret streichen vom alten Regelwerk?
Unsere Normenverschlankung hat im Wesentlichen dadurch geklappt, dass wir uns die langen Bemessungsformeln im „Eurocode 3“ genau angeschaut haben mit denen bislang die Werte zum Beispiel für die Stärke des Materials oder die Größe der zu verwendenden Schrauben ermittelt werden. Allein hierbei sind eine große Zahl von sogenannten Beiwerten rausgefallen. Denn immer dann, wenn ein Wert 0,99 oder Ähnliches herausgekommen ist, dann haben wir mit dem Ziel der Vereinfachung daraus eine 1,0 gemacht und konnten in der Konsequenz auf bisherige Beiwerte verzichten.

Heinrich Bökamp, Präsident der Ingenieurkammer-Bau Nordrhein-Westfalen.
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„Bleiben wir mal bei einem konkreten Beispiel: Das heißt, bisher hatten wir eine Vielzahl von Regeln für den Einsatz von verschiedenen Schrauben, die sich nur marginal unterscheiden?“
Ja genau. Wir haben bisher eine ganze Reihe verschiedener Schrauben im Einsatz, die sich marginal in der Größe, im Durchmesser und im Material unterscheiden. Und das haben wir radikal reduziert. Wir brauchen nicht 100 Varianten, es reichen auch zehn, die im Grunde das Gleiche leisten. Wenn eine Schraube 0,01 Millimeter kleiner im Durchmesser ist, bricht das Bauwerk nicht zusammen. Aktuell haben die Leute auf dem Bau einfach kein Gefühl mehr dafür, welche Schrauben-Variante denn jetzt die sinnvollste ist.
Wie ist es denn zu dem Regelwust überhaupt gekommen?
„Die technischen Hochschulen leisten hervorragende Forschungsarbeit, die für die Weiterentwicklung des Bauens unverzichtbar ist. Viele Innovationen in Materialforschung, Konstruktion oder Nachhaltigkeit kommen von dort. Gleichzeitig ist dadurch im Laufe der Jahre eine enorme Vielfalt an Regeln entstanden, die auch einfache Bauvorhaben immer komplexer gemacht hat. Mit unserem „EasyCode“ schaffen wir jetzt wieder eine klare Balance: Für die anspruchsvolleren Bauprojekte, die etwa 20 Prozent ausmachen, bleibt der bisherige Eurocode bestehen und ist dort auch weiter das richtige Instrument. Für alle anderen wird es sehr viel einfacher.
Und Sie können garantieren, dass ihr Verfahren nicht auf Kosten der Sicherheit geht?
Ja, das können wir. Einer der Bedingungen war, dass wir die Sicherheit in keiner Weise beeinträchtigen. Das können wir auch garantieren: Mit dem neuen Regelwerk sind wir immer auf der sicheren Seite, aber schießen eben auch nicht zu weit über das Sicherheitsziel hinaus, damit es wirtschaftlich auch vernünftig bleibt. Man benötigt nicht immer den Goldstandard, der dann natürlich auch am meisten kostet.
Wir haben aktuell insgesamt ungefähr 4000 Baunormen in Deutschland. Das ist irre.
Sie sagen sogar, dass ihr neues entschlacktes Regelwerk sicherer ist. Warum?
Keiner auf dem Bau kann wissen, was auf Seite 535 des dicken Regelwerks steht. Das heißt, der Druck war mit einem so unübersichtlichen, über 1000 Seiten umfassenden Normengeflecht sehr hoch, irgendetwas zu übersehen, für das man am Ende sogar haften muss. Zudem ist die Gefahr, dass man aus dem Wust an Variablen mal die falsche auswählt, um einiges höher, was dann auch mal auf Kosten der Sicherheit des Bauwerks gehen kann. Alle in der Branche, die gut ausgebildet sind und Berufserfahrung haben, sollten grundsätzlich mit gesundem Menschenverstand, in Verbindung mit einem überschaubaren Regelwerk, sagen können: So machen wir das an dieser Stelle. Das schafft Verlässlichkeit und auch Sicherheit auf der Baustelle.
Wird Ihr Regelwerk in NRW bereits eingesetzt?
Nach Prüfung des Normenwerks durch Bau-Experten hat das Land es Ende September in die Liste der technischen Baubestimmungen aufgenommen. Das sind verbindliche Regelwerke, die auf den Baustellen beachten werden müssen. Ein Riesenschritt, sodass wir sagen können: Es ist offiziell eingeführt und gilt gleichermaßen wie der Eurocode 3.
Kann Ihr Verfahren, das Sie beim Normenwerk „Eurocode 3“ für den Stahlbau angewandt haben, eigentlich auch für andere Regelwerke eingesetzt werden?
Ja, das wünschen wir uns sogar. Denn die Praktiker rufen seit Langem danach und sagen uns: Mit diesen dicken Regelwerken können und wollen wir nicht mehr arbeiten! Allerdings kostet ein solches Vorhaben, das wir jetzt im Stahlbau-Bereich vorangebracht haben, auch Geld. Als Kammer können wir das nicht allein tragen. Da müssen nun die anderen Branchenbereiche nachziehen. Wir haben aber gezeigt, dass es geht.
