Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge zieht Bilanz nach Merkels „Wir schaffen das", kritisiert die Grenzkontrollen der Union und erklärt, warum der Kanzler noch Nachhilfe braucht.
Katharina Dröge (Grüne)„Es ist die große Lebenslüge von Friedrich Merz“

Übt scharfe Kritik an Friedrich Merz: die Grünen-Co-Fraktionschefin Katharina Dröge.
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Frau Dröge, vor zehn Jahren sagte Angela Merkel den oft zitierten Satz „Wir schaffen das“. Wie lautet Ihre Antwort: Haben wir es geschafft?
Angela Merkel hat kürzlich gesagt, sie würde ihre Entscheidung von damals auch heute wieder so treffen. Ich finde das richtig. Und ich habe Respekt vor der großen Menschlichkeit dieser Entscheidung. Ich finde, wir können als Gesellschaft stolz auf das sein, was wir gemeinsam geschafft haben. Diesen positiven Blick auf unser Land wünsche ich mir viel öfter. Natürlich gibt es Dinge, die wir in den letzten Jahren noch besser hätten schaffen können: die Unterstützung der Kommunen etwa oder die sinnlosen Arbeitsverbote. 76 Prozent der Männer, die 2015 zu uns geflohen sind, haben Arbeit. Das entspricht in etwa dem Durchschnitt in Deutschland und ist ein großer Erfolg. Bei den Frauen ist das aber anders. Ein wichtiger Grund hierfür ist das Thema der fehlenden Kinderbetreuung. Grundsätzlich sind die Hürden zum Arbeitsmarkt für Geflüchtete aber noch zu hoch. Die Unternehmen werden nicht müde, die Politik darauf hinzuweisen.
Zur Bilanz gehören aber auch der Aufstieg der AfD und eine polarisierte Gesellschaft, insbesondere nach den Attentaten durch Geflüchtete im vergangenen Jahr.
Ich finde es fatal, dass selbst Teile der CDU und Kanzler Merz die Aussage teilen, dass die Politik von Angela Merkel schuld am Aufstieg der AfD sei. Es ist wahrscheinlich die große Lebenslüge von Friedrich Merz, dass er nur Kanzler werden und die Politik von Merkel abwickeln müsse, um damit die Zustimmung zur AfD zu halbieren. Wir sehen ja gerade, dass dies nicht passiert. Im Gegenteil. Ich finde, Merz muss sich von seiner Lebenslüge verabschieden. Und die CDU braucht dringend einen Realitätscheck in dieser Frage. Ich halte es für die große Aufgabe der CDU in dieser Zeit, die AfD inhaltlich zu widerlegen und zu erklären, warum deren Parolen, Behauptungen und Forderungen falsch sind. Und nicht das Gegenteil zu tun. Und das gilt insbesondere auch für die Asylpolitik.
In Ihrer Regierungszeit in der Ampel hat sich die AfD im Bundestag verdoppelt...
Natürlich müssen Regierungen in krisenhaften Zeiten auch gut zusammenarbeiten und Lösungen für Probleme finden. Das gehört auch dazu. Aber weder die Ampel noch Angela Merkels Flüchtlingspolitik erklären die Wahl von Giorgia Meloni in Italien, nicht die Wahl von Viktor Orbán in Ungarn, auch nicht die Wahl von Donald Trump in den USA. Es erklärt nicht die Wahlergebnisse für Le Pen in Frankreich. Wir brauchen endlich eine vernünftige Analyse, die sich bemüht zu verstehen, warum das überall gleichzeitig passiert. Und dabei gibt es nicht nur den einen Grund. Menschen durchleben Krisen – angefangen von Corona bis zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. In diesen krisenhaften Zeiten haben die Lügen von Populisten ein leichteres Spiel. Wir erleben gleichzeitig einen extrem starken Anstieg der Verbreitung von Propaganda und Verschwörungsideologien über die sozialen Netzwerke. Gesteuert und angetrieben auch von autoritären Regimen wie Russland. Für all das müssen wir bessere Antworten finden.
Ihrer Partei wird aber in besonderem Maße vorgeworfen, sich jeglicher Begrenzung von irregulärer Migration widersetzt zu haben. Zahlen Sie dafür heute mit den Wahlergebnissen, die Sie zuletzt bekamen?
Ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Aussage kommen. Wir haben das getan, was asylpolitisch notwendig war. Und das waren die Verhandlungen um eine Reform des europäischen Asylsystems. Wir haben das erste Mal seit vielen Jahren auf europäischer Ebene eine gemeinsame Reform hinbekommen. Das haben vorher CDU-Kanzler nicht geschafft.
Die Grünen im Europaparlament haben die Reform abgelehnt...
Es gab Teile der Reform, die wir Grünen sehr kritisch sahen. Die Behandlung von Kindern beispielsweise. Auch die Frage, dass es einen besseren gemeinsamen Verteilschlüssel gebraucht hätte. Aber die deutsche Bundesregierung hat unter Federführung von Annalena Baerbock verhandelt und am Ende Ja gesagt. Weil aus unserer Sicht gerade in dieser Zeit eine gemeinsame europäische Lösung extrem wichtig ist. Und jetzt kommt Friedrich Merz und macht das Gegenteil. Er verabschiedet Deutschland aus der europäischen Zusammenarbeit und lässt die deutschen Grenzen einseitig schließen. Das schadet der Wirtschaft. Und das schadet am Ende auch einer funktionierenden Asylpolitik, denn es führt zu mehr Chaos.
Zeigen die Kontrollen und Zurückweisungen nicht, dass man das durchaus machen kann und dass Frau Merkel das auch 2015 oder zumindest später hätte machen können?
Was Alexander Dobrindt an den deutschen Grenzen macht, ist vollkommen ineffektiv. Es führt dazu, dass die Polizei massiv Überstunden macht, dass Lkw im Stau stehen, Waren nicht geliefert werden, dass Pendler wahnsinnig werden und die europäischen Nachbarn enorm verärgert sind. Asylpolitisch führt es dazu, dass Menschen der Rechte beraubt werden, die sie haben. Weshalb schon erste Gerichte geurteilt haben, dass die Politik von Alexander Dobrindt rechtswidrig ist. Und er setzt sie trotzdem fort.
Was ist es für ein Signal, dass Robert Habeck sein Bundestagsmandat aufgibt? Wie verkaufen Sie das Ihren Wählern?
Ich hätte mich gefreut, wenn Robert Habeck sich entschieden hätte, zu bleiben. Das weiß er. Aber er hat für sich persönlich eine Entscheidung getroffen. Und davor habe ich Respekt.
Was bedeutet sein Rückzug für die Grünen?
Wir waren Teil einer schwierigen Koalition. Das hatte einen Preis. Aber in der Sache haben wir in der Regierung extrem viel erreicht. Und darauf bin ich stolz. Jetzt sind wir in der Opposition. Und CDU und SPD zeigen uns jeden Tag, wie dringend es eine starke grüne Stimme braucht. Merz und seine Koalition legen beim Klimaschutz den Rückwärtsgang ein. Sie bremsen den Ausbau der Erneuerbaren und setzen stattdessen auf klimaschädliches Gas. Die CDU schlägt täglich Maßnahmen vor, die das Leben der Menschen teurer machen. Und wichtige Entlastungen wie die vollständige Senkung der Stromsteuer kommen nicht. Mein Job ist es nicht nur, dies zu kritisieren, sondern auch, gute Alternativen aufzuzeigen. Es war richtig für die Menschen und die Wirtschaft im Land, dass wir der Reform der Schuldenbremse zugestimmt haben. All das zeigt: Wir Grünen werden gebraucht.
Friedrich Merz hat für den Herbst Sozialreformen angekündigt. Sind Einschnitte angesichts der schrumpfenden Wirtschaft überhaupt vermeidbar?
Der Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge muss begrenzt werden. Hier sollte Friedrich Merz handeln, aber gerade das hat er erstmal in eine Kommission verschoben. Meine Prognose: Da wird so schnell nichts passieren. Ansonsten habe ich jetzt von Friedrich Merz die Botschaft an die SPD vernommen, sie müsse sich auf eine harte Auseinandersetzung gefasst machen. Das klingt für mich wie die FDP in der letzten Bundesregierung. Seinem eigenen Koalitionspartner eine Kampfansage zu machen, das ist nicht kanzlerhaft. Da ist Friedrich Merz noch nicht in seiner Rolle angekommen.
Wo würden Sie denn umsteuern, um die Bürger zu entlasten und den Sozialstaat zu erhalten?
Es wäre wichtig gewesen, zunächst mal die Stromsteuer für alle zu senken. Bürger und Wirtschaft sind zu Recht wütend, dass das nun nicht kommt. Diese Regierung hat mit dem Sondervermögen so viel Geld wie keine zuvor, und Friedrich Merz schafft es nicht, die Stromsteuer zu senken. Ich wüsste sehr gerne, wen Merz meint, wenn es um Einschnitte geht. Die Alleinerziehende im Bürgergeld, die aufstocken muss, weil das Geld am Ende des Monats nicht zum Leben reicht? Oder die Rentner im Land, die sich darauf verlassen, dass ihre Rente sicher ist? Das sind Fragen, die ein Kanzler doch beantworten muss. Man kann in diesem Land 300 Wohnungen erben, ohne einen Cent Steuern zu zahlen. An diese Gerechtigkeitsfragen traut sich Merz aber gar nicht erst heran. Um den Sozialstaat zu entlasten, braucht es kurzfristig einen Steuerzuschuss für Kranken- und Pflegeversicherung, um versicherungsfremde Leistungen auszugleichen. Gleichzeitig müssen wir das Gesundheitssystem effizienter machen und perspektivisch zu einer Bürgerversicherung kommen.