Vanessa Vohs aus Bottrop lässt sich zum Reserveoffizier ausbilden. Der Kriegsausbruch in der Ukraine führte bei ihr zu einem radikalen Entschluss: „Im Bündnisfall will ich nicht am Schreibtisch sitzen“.
ZeitenwendeMüssen sich die Bürger auf den Ernstfall vorbereiten?

Dresden: Die Fahne von Deutschland ist auf der Uniform eines Soldaten aufgenäht, aufgenommen beim Tag der Bundeswehr.
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Als am 24. Februar die Nachrichten aus der Ukraine die deutschen Sender fluten, arbeitet Vanessa Vohs bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Die Politikwissenschaftlerin, die in Dresden, Jerusalem und London studiert hat, beschäftigt sich dort im Winter 2022 mit Autonomen Waffensystemen. Doch an Arbeit ist jetzt kaum noch zu denken. Die Nerven der Bürogemeinschaft rund um die Sicherheitspolitik-Expertin Claudia Major liegen an diesem Morgen blank. „Der Angriffs Russlands auf die Ukraine war mein 9/11-Moment“, erinnert sich die Bottroperin. Ihr hat sich dieser Tag ähnlich tief ins Gedächtnis eingebrannt wie bei Lebensälteren die Bilder von den Verkehrsflugzeugen, die islamistische Terroristen am 11. September 2001 in die Türme des World Trade Centers in New York flogen.
Vorbereitungen für den Bündnisfall
Das weiße „Z“ als russisches Siegeszeichen auf Militärfahrzeugen, der verzweifelte Widerstand ukrainischer Soldatinnen und Soldaten und von Zivilisten, die düstere „Zeitenwende“-Stimmung in Deutschland lösen eine „Du-musst-was tun“-Reaktion in der damals 24-Jährigen aus. In der Familie Vohs spielte das Militär bis zu dieser Wende praktisch keine Rolle. Der Vater hat Zivildienst beim Roten Kreuz geleistet, die Bundeswehr war kein Thema am Abendbrottisch. Wenn von Schüssen die Rede war, ging es um Fußball, um Schalke.
Das hat sich geändert, zumindest bei Vanessa Vohs. Heute sagt sie: „Ich gehe davon aus, dass meine Generation einen Nato-Bündnisfall erleben kann. Wenn es so kommt, will ich nicht am Schreibtisch sitzen.“ Viele junge Leute engagierten sich für Soziales oder für den Klimaschutz. Das sei gut, findet Vanessa. Verteidigung sei aber genauso wichtig.
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Verrutschte Überzeugungen
Vanessa Vohs hat als Treffpunkt einen besonderen Ort ausgesucht, um von sich und ihren Ansichten zum Militär zu erzählen, Sie geht den „Kreuzweg“ der Zeche Prosper Haniel hinauf, dem bis zu seiner Schließung im Winter 2018 letzten deutschen Steinkohlebergwerk. Ihr Großvater hat hier malocht, der Vater und ein Onkel auch. „Ich bin unfassbar stolz darauf, was die Bergmänner auf der Zeche geleistet haben“, betont sie. Und sie vergleicht den Zusammenhalt unter Tage mit dem unter Soldaten. Kumpel und Kameraden – weit sei das nicht voneinander entfernt, findet sie.
In der Familie Vohs sind Schweiß, schwielige Hände und kohlengeschwärzte Haut Belege für Fleiß und ehrlichen Broterwerb. Der lange und schmerzhafte Abschied vom Bergbau hat in ihr aber auch Überzeugungen ins Rutschen gebracht. „Bergleute haben meist SPD gewählt. So war das in meiner Familie früher auch. Mein Vater hat oft gesagt, die CDU habe den Bergbau kaputt gemacht“, erklärt Vohs. Sie verstehe diesen Ärger, glaube aber nicht, dass ein noch dazu klimaschädlicher Wirtschaftszweig dauerhaft mit Subventionen am Leben gehalten werden dürfe. „Das hat auch mein Vater irgendwann eingesehen und ist heute sogar CDU-Mitglied“. Vanessa Vohs entschied sich schon mit 15, bei der Jungen Union (JU) mitzumachen. Eine „Herz-und-Kopf-Entscheidung“, sei das gewesen. Heute ist sie Bottroper Ratsmitglied, JU-Kreisvorsitzende und leitet stellvertretend die Internationale Kommission der JU in NRW.
„Ich bin gläubig katholisch“, betont Vohs. Auf die Frage, ob ihr Glaube nicht im Widerspruch stehe zur Bundeswehr, antwortet sie: „Die Kirche erkennt das Recht des Menschen auf Selbstverteidigung an.“
Streit um Krieg und Frieden
Seit der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist, streitet Deutschland über Verteidigung, Wehrpflicht, Rüstung. Das Interesse an der Bundeswehr nimmt zwar zu, gleichzeitig aber auch die Zahl derer, die vorsorglich den Kriegsdienst verweigern. Vor dem NRW-Landtag legen im September 2025 erstmals öffentlich Soldatinnen und Soldaten das Gelöbnis ab. Wenige hundert Meter weiter rufen Demonstrierende: „Kein Mensch, kein Cent der Bundeswehr“. Streit liegt in der Luft: Die Spaltung der Gesellschaft zeigt sich auch und gerade, wenn es um Krieg und Frieden geht.
„Mein Engagement bei der Bundeswehr hat nichts mit Abenteuerlust zu tun“, versichert Vanessa Vohs. „Ich möchte Reserveoffizier werden, weil die Sicherheitslage in Europa ernst ist. Deutschland hat keine fünf Jahre Zeit, um kriegstüchtig zu werden.“ Dieses Zeitfenster wird oft genannt. Es bezieht sich auf Einschätzungen von Militärexperten und dem Verteidigungsministerium, wonach Russland bis 2029 in der Lage und willens sein könne, Nato-Länder anzugreifen. Friedensaktivisten bezweifeln dies.
Als dieser Text entsteht, nehmen die Warnungen vor einem möglichen Krieg und die Mahnungen, sich zu rüsten, zu. Der Präsident des Reservistenverbandes, Patrick Sensburg, sagt dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“, die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht sei nötig, um das Land verteidigungsfähig zu machen. Im Falle eines Krieges rechne er mit 1000 getöteten oder verwundeten Soldaten an der Front pro Tag. Die müssten ersetzt werden, und zwar auch maßgeblich durch Reservisten.
Vanessa Vohs teilt Sensburgs Meinung zur Wehrpflicht. Man brauche sie, für Männer und für Frauen. „Frauen können genauso einen Beitrag zur Verteidigung leisten wie Männer. Auch das gehört zur Gleichberechtigung.“
Neue Lebensrealität
Das Thema Verteidigung prägt heute das Leben der 27-Jährigen. Sie ist Doktorandin an der Professur für Sicherheits- und Verteidigungspolitik von Professor Carlo Masala an der Universität der Bundeswehr in München. Promotionsthema: „Deutschlands Völkerrechtspolitik im Bundestag“. Berufsbegleitend durchläuft Vohs die Ausbildung zum Reserveoffizier, ist jetzt Oberfähnrich der Reserve, angedockt ans Weltraumkommando der Bundeswehr in Uedem.
Zuvor hatte sie diverse Informationsveranstaltungen der Bundeswehr besucht und dort probeweise Uniform getragen, beim Heer in Munster und in der Marineschule Mürwik. „Wir haben Formaldienst geübt, also zum Beispiel das Marschieren und Grüßen. Wir hatten Unterricht und haben auch geschossen.“ Die Aussicht, ein Gewehr in der Hand zu halten, sei aber nicht die Motivation dahinter gewesen, versichert Vohs.
Schutz der Heimat als Ziel
Vanessa Vohs rät zu einem differenzierten Blick auf die Dinge und warnt davor, Militär und Waffen pauschal zu verteufeln. Das gelte auch für ihr Spezialgebiet – Autonome Waffensysteme. „Die sind nicht per se etwas Schlechtes. Sie können schwerwiegende Fehler machen, aber auch das Leben von Soldatinnen und Soldaten schützen.“ Wichtig sei der Kontext. Und dass der Mensch, nicht die Technik, über ihren Einsatz entscheide.
Verteidigung sei Heimatschutz, und für ihre Heimat empfindet Vohs eine tiefe Zuneigung. Oben auf der Halde, wo das große Kreuz steht und der Blick aufs halbe Ruhrgebiet frei wird, sagt sie: „Die Mentalität der Menschen hier ist mir näher als die von einigen Menschen, die ich in Berlin kennengelernt habe, die weit weg sind von den Problemen und Sorgen der Malocher“. Die Selbstironie der Menschen im Revier gefalle ihr, die Bodenständigkeit, die raue Herzlichkeit. Für Vanessa Vohs sind es „Zeichen von Liebe.“
