Ideale mit NebenwirkungenSo erkennt man Essstörungen und Sportsucht bei Männern
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Hanteltraining.
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Ausgemergelte Schultern, papierdünne, bleiche Haut, herausstehende Wangenknochen - wer an Essstörungen denkt, hat meist zuerst hungernde junge Frauen vor Augen. Vor allem Magersucht und Bulimie, zwei der Hauptformen von Essstörungen, sind in der allgemeinen Wahrnehmung immer noch typisch weibliche Krankheiten. Und nicht nur dort: Auch die Forschung hat bislang zumeist die Frauen in den Blick genommen.
Dabei sind auch Männer von Essstörungen betroffen. Und zwar nicht nur in jungem Alter. Das zeigt eine neue Studie der Wissenschaftlerin Barbara Mangweth-Matzek von der Innsbrucker Uniklinik für Psychosomatische Medizin. 470 Männer zwischen 40 und 75 Jahren hat die Forscherin zu ihrem Essverhalten, ihrer Sportlichkeit und Lebensqualität befragt. "Richtige Studien zum Essverhalten von mittelalten und älteren Männern gab es davor keine", sagt Mangweth-Matzek. Das Ergebnis: Sieben Prozent der Studienteilnehmer wiesen wesentliche Essstörungssymptome auf. Dazu gehören Essanfälle, Erbrechen, die Einnahme von Abführmitteln, extremes Fasten oder ein Body-Mass-Index unter 18,5. Sieben Prozent - auf den ersten Blick scheint die Zahl nicht besonders hoch. Die Kriterien einer tatsächlichen Essstörung erfüllten in Innsbruck nur 2,6 Prozent der Befragten.
Die Erwartung an Männer hat sich verändert
Barbara Mangweth-Matzek aber resümiert: "Man darf sich von der Zahl nicht täuschen lassen. Das waren mehr Betroffene als gedacht. Früher hätte niemand geglaubt, dass auch ältere Männer Essstörungen haben." Verallgemeinerungen seien zwar schwierig. Eines stehe aber fest: "Die gesellschaftlichen Erwartungen an Männer in der westlichen Welt haben sich verändert."
Der Druck gut auszusehen ist heutzutage groß - auf beide Geschlechter. Werbung auf Plakaten und in Zeitschriften, aber auch Fotos in sozialen Netzwerken, suggerieren das Ideal: Während Frauen möglichst schlank sein sollen, hat der Mann optimalerweise einen muskulösen, definierten Körper. Dellen, Fett, Bierbauch? Unschön und unerwünscht. Auch deshalb gingen sehr junge Menschen, vor allem junge Männer, ins Fitnessstudio, erklärt Mangweth-Matzek.
Nun muss viel Sport nicht zwangsläufig auf eine Erkrankung hinweisen. Und doch: Vier von fünf Bulimiepatienten in Mangweth-Matzeks Studie gaben an, als Ausgleich zum Essen exzessiv Sport zu treiben. Nur ein Teilnehmer - in diesem Fall ein klassisch bulimiekranker Betroffener - erbrach sich regelmäßig. Überrascht ist Barbara Mangweth-Matzek von diesem Ergebnis nicht sonderlich. Männer mit Essstörungen seien weniger um ihr Gewicht besorgt als Frauen. "Männer wollen nicht nur schlank, sondern schlank und muskulös sein."
Jens Kleinert, Leiter am Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule in Köln, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Sportsucht. Männer, die unter einem verzerrten Körperbild oder einer Essstörung leiden, versuchten dies häufig mit "suchtartigem Krafttraining oder ähnlichen Fitnessaktivitäten" zu kompensieren, erklärt der Sportwissenschaftler.
Frauen mit gestörtem Selbstbild empfinden sich häufig als zu dick - männliche Betroffene fühlen sich hingegen oft zu schmächtig. Sie leiden am so genannten Adonis-Komplex, die Forschung spricht von Muskeldysmorphie. Betroffene sind nicht unbedingt von vorneherein essgestört. Meist aber gehen Sportsucht und Essstörung, wenn auch zeitverzögert und nicht immer in der gleichen Reihenfolge und Intensität, miteinander einher.
Wie erkennt man die Essstörung?
Das Leben solcher Männer dreht sich allein um Muskelmasse. Um ihr Ideal zu erreichen, trainieren sie exzessiv. Genau wie eine restriktive Diät bei Frauen könne das bei Männern der Einstieg in eine Essstörung sein, erklärt Barbara Mangweth-Matzek. Das muss nicht gleich Bulimie bedeuten. Mancher ernährt sich beispielsweise nur noch proteinreich und fettarm. Was mit erheblichen Einschränkungen verbunden ist: Ein spontaner Cafébesuch mit Freunden, ein festliches Abendessen mit der Familie? Undenkbar.
Männer mit Essstörungen sind weniger um ihr Gewicht besorgt als Frauen und neigen zu exzessiven Sport.
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"Diese Menschen brauchen eine ganz besondere Essenskomposition und nehmen nur noch eigens gekochte Nahrung zu sich", weiß die Forscherin aus Innsbruck. Genau wie magersüchtige Frauen nicht merkten, wie dünn sie seien, "sehen muskeldysmorphe Männer nicht, wie muskulös sie sind." In vielen Fällen gehe der Komplex so weit, dass Betroffene leistungssteigernde Substanzen, etwa Anabolika und andere Pharmazeutika, konsumierten, um Muskeln aufzubauen. "Das verschlimmert das Ganze dann noch." Nicht nur exzessives Hungern sei gefährlich. "Das gilt für alles, was extrem ist", sagt Mangweth-Matzek.
Sie warnt: Oft werde eine Essstörung zu spät erkannt, weil Extremsport, ob als Ursache oder Begleiterscheinung, statt Verdacht zu wecken gesellschaftliche Anerkennung hervorrufe.
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Einer Gesundheitsstudie von Robert-Koch-Institut und TU Dresden zufolge leiden 0,5 Prozent aller Männer in Deutschland unter einer der drei Hauptformen von Essstörungen. Neben Magersucht und Bulimie zählt auch die Binge-Eating-Störung dazu. Zum Vergleich: Bei den Frauen sind es demnach 1,4 Prozent. Auch in der "Schön Klinik Roseneck" in Prien am Chiemsee sind von jährlich etwa 800 Patienten mit Essstörungen nur etwa 50 Männer. "Es ist zu vermuten, dass die Dunkelziffer generell aber sehr viel größer ist, weil Männer größere Schwierigkeiten haben, sich Schwächen und Krankheiten einzugestehen. Vor allem bei psychischen Leiden besteht eine viel höhere Hemmschwelle, sich an Ärzte oder Psychotherapeuten zu wenden", sagt Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der Klinik.
Dabei würden heute schon mehr Männer mit Essstörungen behandelt als noch vor 20 Jahren, so Voderholzer. Auch, wenn die Gründe für den Anstieg nicht ganz eindeutig seien - "es könnte durchaus mit der größeren Bedeutung von körperlicher Fitness und einem idealen Körperbild auch für Männer zusammenhängen."
In der bayerischen Klinik Roseneck werden Frauen und Männer mit Essstörungen gemeinsam behandelt, ohne dass individuelle oder geschlechterspezifische Probleme untergehen. Bei Männern zählen neben einer Sportsucht etwa auch Depressionen, ADHS und Alkoholprobleme zu den Begleiterscheinungen. Die Behandlungserfolge seien gut, berichtet Ulrich Voderholzer.
Grundsätzlich sind Ess- oder Körperbildstörungen bei männlichen Patienten aber nach wie vor nicht nur schwerer zu diagnostizieren. Die Gesundheit von Männern in Studien zu untersuchen, sei extrem schwierig, urteilt Barbara Mangweth-Matzek. "Über Essverhalten zu reden, gilt heute in westlichen Gesellschaften immer noch als unmännlich."
Diese Denkmuster zu überwinden, sei nicht einfach. Um Männer zu ermutigen, über ihr Leiden zu sprechen, sei es hilfreich, wenn Ärzte Patienten bei Untersuchungen häufiger "automatisch auch auf psychische Befindlichkeiten ansprechen und nach Schwierigkeiten im Alltag fragen", meint Mangweth-Matzek. So könnten Hemmschwellen abgebaut werden. "Psychische Probleme sind keine Schwäche."
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Sportsucht - Das sind die Symptome
In westlichen Gesellschaften gehören Essstörungen zu den häufigsten psychosomatischen Erkrankungen. Betroffene haben ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper. Nicht selten betreiben Patienten mit Essstörungen als Ausgleich zur Nahrungsaufnahme auch exzessiv Sport. Sportsucht gilt als eine klassische Verhaltenssucht. Alleine, also ohne Grunderkrankung, tritt sie nur äußert selten auf.
Weil die Symptome in unterschiedlich starkem Zusammenhang mit der Sportsucht stehen, ist diese als solche nicht leicht zu diagnostizieren. Je mehr der folgenden Symptome auftreten, desto wahrscheinlicher ist eine Sportsucht:
Sporttreiben wird als Zwang erlebt
Training trotz Schmerzen oder Verletzungen
Betroffene Menschen suchen im Sport überwiegend eine euphorisierende Wirkung
Vernachlässigung von Familie, Partnerschaften, Freunden, dem Job oder Freizeitaktivitäten für den Sport
Immer häufigeres Training, immer gefährlichere Sportarten über eine normale Trainingsentwicklung hinaus
Kauf und (regelmäßiger) Konsum von Schmerzmitteln, Nahrungsergänzungsmitteln oder illegaler Substanzen wie Hormonpräparaten
Entzugssymptome (teilweise schon nach einem Tag) wie Rastlosigkeit, Nervosität, Erschöpfung, Konzentrations- und Denkschwächen, aber auch Magen-Darm-Störungen oder Schlafprobleme
Zu Essstörungen gibt es weitere Informationen im Internet. Unter 0221 / 89 20 31 bietet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine anonyme Beratung an.