Köln – Soho House, Berlin. Multitalent Beth Ditto (36) huscht durch die Katakomben, schlürft Kaffee, umarmt Menschen, strahlt. Fünf Jahre nach dem letzten Album ihrer Band Gossip und nach der schleichenden Auflösung des Trios im vergangenen Jahr hat die laute, ausgesprochen herzliche Sängerin ihr erstes Soloalbum „Fake Sugar“ herausgebracht. Im Interview sprach Beth Ditto mit Steffen Rüth.
Frau Ditto, Sie haben im Herbst ihre zweite Plus-Size-Kollektion auf den Markt gebracht, jetzt das Album. Woher der Aktionismus?
Gammeln geht nicht. Ich fühle mich besser, wenn ich in Arbeit ertrinke. Das Tollste ist: Ein neues Hobby habe ich auch.
Welches denn?
Häkeln! Ich kann jetzt häkeln wie eine Weltmeisterin. Echt wahr. Ich habe uns den ganzen Hausstand gehäkelt. Schals, Mützen, Sweater, eine warme Decke. Ich kann alles häkeln. (auf Deutsch): I häkel it.
Wann haben Sie beschlossen, dass Zeit ist für neue Songs?
Es zeichnete sich schon bei unserer letzten Gossip-Platte ab, dass es nicht mehr lange gut gehen würde mit der Band. Nathan, der Bassist, hatte keine Lust mehr, mit mir Musik zu machen. Er ist zurück nach Hause gezogen, auf eine Farm in Arkansas.
Und das war’s?
Ich hätte allein ein Gossip-Album schreiben können, was aber Quatsch gewesen wäre. Also rief ich Nathan an und sagte: „Wir sollten aufhören.“ Er nur: „Okay“. Und das war es.
Sehr undramatisch, oder?
Total. Eine subtile Trennung. Wenn dir die Menschen, mit denen du den Großteil deines Lebens geteilt hast, nah und wichtig sind, dann solltest du so etwas freundschaftlich über die Bühne bringen.
War es anders, ein Album alleine zu machen?
Ja. Ich habe die anderen vermisst. Unser Gerede über Musik und alles andere, das nur unsere kleine Gruppe Durchgeknallter versteht, das fehlte mir. Ich musste lernen, anderen Menschen zu vertrauen, mich zu öffnen. Und ich musste lernen, vor allem mir selbst zu vertrauen.
Wie war das?
Hart, aber gut. Ich bin selbstständiger geworden. Weil ich mich immer so sehr auf Nathan verlassen hatte. Jetzt erinnern mich viele Stücke an die frühen Gossip, als wir noch jung und unbekannt waren. „Fake Sugar“ aufzunehmen war, wie nach einer langen Beziehung wieder auf Dates zu gehen. Du triffst neue Leute, manches ist geil, manches weniger, aber du bereust nicht, dass du tust, was du tust.
Die Songs, „Fire“ oder „In And Out“ hören sich echt heiß an.
Yeahhh. Sex, Leidenschaft und Energie. Wow. Das ist genau das, was ich erreichen wollte. (rückt näher). Komm, lass uns endlich häkeln!
Kann „Fire“ Rekorde brechen wie einst „Heavy Cross“?
„Fire“ sollte erst gar nicht aufs Album. Ich fand den Song blöd. Ein gutes Zeichen.
Wieso gut?
Von „Heavy Cross“ hatte ich anfangs auch nicht viel gehalten. Tja, und was wäre nur aus meinem Leben geworden, gäbe es „Heavy Cross“ nicht! Ich kann oft nicht vernünftig einschätzen, welche Lieder was taugen. Ich bin keine Songwriterin, ich habe das nie gelernt. Ich schütte in meiner Musik einfach alles aus, was mir durch den Kopf geht. Ohne Filter, sehr direkt.
Sie stammen aus einem Kaff in Arkansas. Ist Ihre direkte Art typisch für die Menschen dort?
Ja. Wir sind nett, warm, freundlich, liebenswürdig – und verdammt laut.
Beschreiben Sie sich da gerade selbst?
Bin ich nett? Oder doch eher peinlich? Wir sind nicht sehr fein und vornehm, dafür haben wir ein großes Herz.
Sie sind mit sechs Geschwistern und einer liebevollen Mutter aufgewachsen, aber auch mit wechselnden Stiefvätern, Ihr Onkel hat Sie missbraucht. Woran denken Sie, wenn Sie an die Heimat denken?
Das ist alles richtig, aber ich denke lieber an die schönen Sachen. An Musik, Kultur, das Essen, die großen Familien. Aber die Schattenseiten kann man nicht wegreden. Wir waren arm, und wir waren wirklich viele.
Gibt es öfters Familientreffen?
Ja, regelmäßig. Bald gehe ich wieder hin, eine Nichte feiert ihren High-School-Abschluss.
Seit 15 Jahren leben Sie im
liberalen Oregon. Warum?
Es gab so vieles auf der Welt, das ich unbedingt sehen wollte. Und Arkansas ist echt eine merkwürdige Ecke.
Was meinen Sie damit?
Es ist sehr rassistisch, nicht besonders tolerant. Die Menschen haben kein Interesse, sich zu entwickeln. Homosexualität wird von vielen als Sünde empfunden. So nach dem Motto „Gott mag es nicht“. Die Schönheit meiner Heimat ist herrlich, aber die dunkle Seite des Südens ist wirklich stockfinster, so hoffnungslos. Man will diesem Dunkel nicht zu nahe kommen.
Können Sie verstehen, dass in Arkansas viele Menschen aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit Donald Trump gewählt haben?
Nein. Als ich Teenager war, waren die Republikaner die Partei der Reichen, nicht die Partei für Leute wie uns. Jetzt hat sich das seltsam gedreht. Einerseits ist es poetisch, dass die Leute so religiös sind. Andererseits sind sie echt gestört. Viele denken, dass Trump von Gott gesandt wurde, um die Menschen näher ans Ende der Welt zu bringen. Puh!
Sind Sie religiös?
Kein Stück. Ich glaube an gar nichts. Ich liebe die Wissenschaften.
Welche?
Alle! Ich mag Klarheit, Beweise, auch wenn ich nicht besonders schlau bin. Physik finde ich super, richtig magisch. Am meisten liebe ich es, wenn es so kompliziert wird, dass ich überhaupt nichts mehr verstehe. Und ich bin da nicht die Einzige. Ich kenne viele arme, smarte Leute.
Sie sind selbst sehr smart. Sie machen Musik, entwerfen Mode, modeln, sind Aktivistin und Ikone der Lesben und Schwulen.
Ja, ja, ich sage immer zu meiner Frau, wenn sie mich ärgert: Weißt du eigentlich, wen du hier vor dir hast? Model, Schauspielerin, Sängerin, Songwriterin, Autorin, Tochter, Köchin.
Wollen Sie die Welt verbessern?
Ich will den Leuten zeigen, dass sie sein können, wie sie wollen. Ich bin fett, ich bin lesbisch, ich bin für viele kaum zu ertragen. Aber hier sitze ich. Ich war immer irrsinnig selbstbewusst, es hat mich nie gestört, dick zu sein, ich wollte nie einen anderen Körper haben. Dünn zu sein, macht dich nicht zu einem glücklicheren Menschen, das ist meine Überzeugung. Rede ich zu viel?
Nein, nein.
Also, ja, ich will die Welt verbessern. Wir haben diese Lagerfeuer-Regel: Du sollst das Feuer in einem besseren Zustand verlassen als du es vorgefunden hast. Je älter ich werde, desto mehr geht es mir darum, die Menschen zu inspirieren, ihre Einsichten zu verändern.
Sind Sie eine Feministin?
Ja. Selbstverständlich. Ich verabscheue Sexismus. Als Frau musst du immer noch härter kämpfen, um dasselbe zu erreichen wie ein Mann. Aber wir kommen voran.
Sie haben für Jean Paul Gaultier gemodelt und schon ihre zweite Kollektion mit Plus-Size-Mode herausgebracht. Warum machen Sie Mode?
Ich hoffe, dass ich Anstöße geben kann. Du musst dich nicht verstecken, weil du dick bist. Meine Mode ist selbstbewusst, extrovertiert, sie verhüllt dich nicht, sie zeigt dich. Sie sagt „Das ist mein Körper, und er ist schön“. Auch eine fette Frau darf stolz auf ihren Körper sein.
Was ist ihre größte Stärke?
Ich bin nirgendwo die Beste, aber ich quatsche die Leute voll mit meinem Zeug. Und ich bin eine Kümmerin. Ich umsorge die Menschen, sie sollen zu mir kommen, wenn sie Liebe oder auch nur in den Arm genommen werden wollen.