Interview mit Kölner Chorleiter„Nirgendwo kommt man sich schneller näher als beim gemeinsamen Singen“

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Martin Füg, Vorstand des Netzwerks Kölner Chöre, vor der Philharmonie

Hat immer ein offenes Ohr: Martin Füg widmet sich dem Chorleben mit ganzem Herzen und das ganze Jahr über.

Martin Füg ist Leiter des Netzwerks Kölner Chöre. Mit Bernd Imgrund sprach er im Interview über sein beeindruckendstes Konzert, die Kraft des Musizierens und sein liebstes Weihnachtslied.

Martin Füg mag das Café im Museum Ludwig. Durchs große Fenster sieht man die Züge auf der Hohenzollernbrücke davonfahren. Auch Füg war viele Jahre woanders, bevor er ins Rheinland zurückfand.

Heute Abend singen die Kölner Chöre in der Philharmonie. Welche Tradition steckt hinter diesen Konzerten, die jeweils am 23.12. stattfinden?

Seit vielen Jahren wird das Weihnachtssingen von jeweils drei Kölner Chören aus dem Pool der zwölf großen Konzertchöre bestritten. Natürlich werden auch Adventslieder gesungen, und das Publikum stimmt mit ein. Da sitzen Menschen zwischen 4 und 100, ganze Familien kommen alle Jahre wieder.

Die Kölner Chöre haben quasi die Mitsingwelle vorweggenommen.

(lacht) Kann man so sagen. Und es wird immer viel Neues ausprobiert, dieses Jahr freuen wir uns etwa auf ein Stück von Benjamin Britten mit einer Soloharfe. Auch afrikanische Trommler und ein bisschen Jazz sind mit dabei.

Wie finden Sie die Akustik der Philharmonie?

Atemberaubend schön, so kenne ich das aus keinem anderen Konzerthaus. Wenn man dort auf dem Podium steht mit seinem Chor, hat man das Gefühl, komplett unter sich zu sein − sehr intim, obwohl 2000 Leute dort sitzen mögen. Diese arena-artige, kreisrunde Architektur trägt sicher dazu bei.

Was hat ein Chor dem einzelnen Sänger voraus?

Dass man etwas gemeinsam macht. Jeder bringt seine eigenen Fähigkeiten, seinen Charakter mit in den Chor. Wenn aus einer Stimme zwei werden und dann drei und vier, die miteinander schwingen, dann fängt es an, schön zu werden. Wenn Chorgesang richtig funktioniert, atmen irgendwann alle gleichzeitig, es entsteht ein wunderbarer Gemeinschaftsklang.

Man fühlt sich als Teil eines Ganzen?

Genau. Wer neu in eine Stadt kommt und sich vielleicht zunächst allein fühlt, sollte in einen Chor gehen. Nirgendwo kommt man sich schneller näher als beim gemeinsamen Singen. Das ist ein ganz besonderes Kennenlernen.

Die Mitglieder im Netzwerk Kölner Chöre kommen alle aus dem Amateurbereich.

Deutschland insgesamt hat eine reichhaltige, alte Chortradition. Amateurchöre haben durchaus einen anderen Sound als Profichöre wie etwa der WDR-Rundfunkchor.

Nicht unbedingt schlechter, nehme ich an.

Unsere Chöre singen schwerste Literatur auf hohem Niveau. Profis haben ja vor allem das solistische Singen gelernt. Wenn sie dann chorisch singen, bedeutet das auch erst mal eine Umstellung.

Warum brauchen die ein Netzwerk, also einen Dachverband, dessen Vorstand Sie sind?

Das gibt es nur in Köln, und schon seit 30 Jahren. Anstatt sich nur in Konkurrenz zueinander zu sehen, unterstützen sich die Chöre mit ihrem Know-how gegenseitig. Besser, wenn nicht drei Chöre in einem Monat Bachs Weihnachtsoratorium aufführen und sich so gegenseitig das Publikum wegnehmen. Also koordinieren wir das.

Sie singen auch selbst, nämlich im Kölner Bach-Verein.

Ich war schon als Kind in Siegburg im Chor, meine Eltern kommen aus der Kirchenmusik.

Was war Ihr schönstes Chorerlebnis?

Die h-Moll-Messe von Bach im Mai dieses Jahres in der Philharmonie. Dirigent Christoph Siebert hatte die zwei Stunden ohne Pause konzipiert. Die Philharmonie war voll, die Menschen waren mucksmäuschenstill bis zum letzten Ton. Und plötzlich sprang dieses Publikum auf und brüllte, als habe sich allen die Brust gelöst. Wie in einem Rockkonzert. So einen Jubel habe ich in einem klassischen Konzert noch nie erlebt, den Moment werde ich nie vergessen.

Sie haben Theater- und Literaturwissenschaft studiert. Welcher Stückeschreiber ist für Sie der musikalischste?

Spontan fällt mir Shakespeare ein, wegen seiner bildhaften Sprache. Über das Kleist-Jahr 2011 haben Sie einen Kleist-Blog geführt, den man immer noch im Netz findet.

Seine Sprache ist unglaublich musikalisch! Im „Zerbrochnen Krug“ sind manche Verse aufgeteilt auf vier Personen, die Worte fallen wie Kaskaden, wie eine Melodie. Leider habe ich nie etwas von Kleist inszeniert.

Mit Ihrem Mix aus Theater und Gesang wären Sie prädestiniert für Opern- und Musical-Inszenierungen. Das Blaue Zelt steht − noch − direkt nebenan.

(lacht) Auch wenn ich drei Aufführungen für den Bach-Verein szenisch gestalten durfte − ich bin ganz froh, dass ich als Geschäftsführer der C.G. Jung-Gesellschaft einen festen Job habe und mich dem Kölner Chorleben ohne finanziellen Druck ehrenamtlich widmen kann.

Bach oder Beethoven?

Hundertprozentig Bach! Es gibt nichts, was mehr Spaß macht zu singen, Bach kann man immer wieder neu genießen. Wenn Beethoven seine 9. noch hätte hören können, hätte er sicher einiges anders gemacht. (lacht)

Schumann oder Schubert?

Schwer. Schumann, weil die „Rheinische“ so schön ist.

Stones oder Beatles?

Beatles. Aus den selben Gründen wie bei Bach und Beethoven.

Brings oder Höhner?

Auch schwer. In der kölschen Musik bin ich nicht richtig drin. Erst recht nicht in der Karnevalsmusik. Hymnen an diese Stadt sind schön.

Über welchen Träger hören Sie Musik?

Nicht über Spotify, da wird Musik verramscht, und die Künstler kriegen zu wenig Geld. Ich höre noch immer gern CDs und dazu gekaufte Musik von meiner Festplatte. Vinyl haben wir noch im Keller − aber keinen Plattenspieler mehr.

In Zeiten von Weihnachten und Krieg die Frage: Kann Musik befrieden?

Das gemeinsame Musizieren sollte viel intensiver betrieben werden.

Putin und Selenskyj in einem Chor?

Das wird wohl nicht geschehen. Aber denken Sie an Daniel Barenboims „West-Eastern Divan Orchestra“. Dort musizieren Palästinenser und Israelis gemeinsam, ein ganz großartiges Projekt, das unheimlich viel bewegt hat. Steck Menschen in einen Raum und lass sie gemeinsam an etwas kreativ arbeiten − du wirst reiche Ernte einfahren.

Haben Deutschlands Chöre ein Nachwuchsproblem?

Ich bin da nicht so pessimistisch. Unsere Chöre im Netzwerk sind altersmäßig bunt gemischt, der Durchschnitt mag bei 40 Jahren liegen.

Wie könnte man einen jungen Gangsta-Rapper für einen Bach-Choral begeistern?

Der Musikunterricht hierzulande ist gnadenlos schlecht geworden, auch weil es an Lehrern mangelt. Eigentlich sollte er die gesamte Musikgeschichte vom Barock bis zum Rap abdecken. Der Bach-Verein ist regelmäßig in Schulen gegangen, um die Kinder in Konzerte einzubinden. So mancher Hauptschüler kam dadurch zum ersten Mal in seinem Leben in die Philharmonie und fand das verdammt cool. Begeisterungsfähig sind die alle.

Sie leiten das Netzwerk Kölner Chöre seit April 2022. Was soll die Zukunft bringen?

Angesichts der heutigen Probleme ist an einen Ausbau der Chormusik im Moment kaum zu denken. Die Corona-Pandemie, die extremen Preiserhöhungen und all die Krisen haben uns alle sehr gebeutelt. Ich wäre überglücklich, wenn wir den Status quo über die Jahre halten könnten. Und wenn uns das Publikum so folgt, dass sich die Chöre ihren Mut für Experimente bewahren, anstatt nur eingeführte Klassiker zu bringen.

Was ist Ihr liebstes Weihnachtslied?

Keines von den ganz klassischen. Ich würde da eher den Schlusschoral aus Bachs Weihnachtsoratorium nennen. Pauken und Trompeten heizen die festliche Stimmung an, mit einer Melodie, die wir eigentlich mit Karfreitag in Verbindung bringen − eine unglaublich schöne Komposition.


Zur Person 

Martin Füg wurde 1966 geboren und wuchs in Siegburg auf. Nach Abitur und Zivildienst studierte er Theaterwissenschaft und Germanistik in Erlangen.

Nach Hospitanzen am Schauspiel Bonn und Frankfurt war er ab 1993 Mitgründer und Regisseur des Freien Theaters „Dward“ in Erlangen, Fürth und Nürnberg.

Zurück im Rheinland, stand er von 2004 bis zum Jahr 2020 ehrenamtlich dem Bach-Verein Köln vor. Der Verein ist einer der großen Konzertchöre der Stadt.

2022 begann er als Vorsitzender das Netzwerk Kölner Chöre, einen Zusammenschluss der zwölf großen Konzertchöre, die vor allem in der Philharmonie auftreten. Hauptberuflich arbeitete Füg bis 2023 bei den mibeg-Instituten, seit Juli 2023 ist er Geschäftsführer der Kölner C. G. Jung-Gesellschaft. Martin Füg wohnt mitten in Köln, wenige Fußminuten von der Philharmonie entfernt.

www.netzwerk-koelner-choere.de

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